Dizius Han

Þðãåí Õàôíåð
Wie man wider alles Erwarten feststellte, war sein Name weder griechischer noch lateinischer Herkunft. Haette sich jedoch jemand ernsthaft fuer dessen Bedeutung interessiert, waere er bei keltischen Priestern fuendig geworden. „Einsame Eiche“ haetten sie ihn genannt … Nichts passte ihm weniger als dieser Name. Stelle man nur vor, wie der Baum so alleine und verwitwet auf einer abgelegenen – mir fehlt gerade ein eine mit weissem Schnee bedeckte – Ebene steht. Nein, er hatte viele Freunde, die ihn begleitete. „Manchmal sogar zu viele“, dachte er.

Etwas ganz anderes, das mit den Priestern nichts zu tun hatte, beunruhigte ihn in der letzten Zeit. Es waren seine Traeume, besser gesagt, seine Vergangenheit, die nun eher einer bizarren Fiktion als der Wirklichkeit aehnelte. Frueher sah er nur verschwommene Bilder, die er wie ein Puzzle zusammenfuehren wollte um den Sinn jenes kaleidoskopischen und parabolischen Ganzen endlich verstehen zu koennen. Doch das Nichtverstehen stoerte ihn kaum, geschweige denn machte Angst. Die Bange kam erst, wenn sie mehr oder weniger eindeutig und verstaendlich wurden.

So sah er den zu brechen drohenden Deich, auf dem er als Soldat mit seinem Kameraden Streife machte. Hochwassereinsatz. Damals konnte er seine Gefuehle auf zwei wesentliche reduzieren: Angst und Verantwortung. Jenes war gegenueber dem juengeren Kameraden, der auf seinen Schulterklappen weniger Balken hatte, sowie gegenueber den Dorfbewohnern. Er dachte an seine Verlobte, Eltern und Schwester. Im Traum fuehlte es und dachte es aber anders …

Der Deich war sein Alarmposten im einsamen Krieg gegen die Natur. Die Zivilbevoelkerung war evakuiert, aber er wusste, wen er verteidigte, doch die, die er verteidigte, kannten ihn nicht. Sie waeren gewiss ueberrascht gewesen. Die Leute sollen wissen, wer auf ihrer Seite spielt und verhindert, dass ihr Leben ins Stottern kommt.

Ihr Dorf lag westlich des Deichs, auf dem er seine Streife ging. Das klare Wasser sickerte bereits dadurch. „Grundwasser. Isn Ordnung“, informierte er den besorgten Kameraden. Hoher Druck gesammelter Wassermassen auf der einen Seite verursachte dieses Sickern auf der anderen. „Wenn es schmutzig und dreckig ist, dann ist das Spiel vorbei.“ Der kuenstliche Weg trennte die beiden Antipoden: das stuermische Wesen, das aus dem Osten kam, und die augenscheinliche Harmonie jenes Dorfes, das dem Namen nach auf einem Berg stehen musste. Wie schmal und gefaehrlich dieser Weg war! Er atmete jene Luft ein und erhob sich ueber dem Deich. Als er ihn so ansah, konnte er nicht begreifen, wieso diese Barriere ueberhaupt existierte. Warum fuerchten die Menschen dieses Wasser, als ob es die Sintflut waere. Hat man etwa Angst vor dem Regen, der das erfrischende Neue in die Menschenseele hineinspuelt und das Alte wie einen koestlichen Cocktail neu vermischt!

In dem Moment schaute er nach unten. Sein Kamerad konnte die gewaltigen Wassermassen nicht mehr ansehen und drehte den Kopf nach rechts. Zum Dorfe! In seinen Augen verspuerte er die Angst und das Heimweh. Er akzeptierte seine zu selbstverstaendliche Entscheidung, war aber noch nicht in der Lage, die eigene zu treffen.

Jedes Mal wenn er morgens aufwachte, fragte er sich, um welche Entscheidung es im Traum eigentlich ging. Er schleppte sich mit dem Gedanken zur Arbeit, kehrte erleichtert zurueck und dachte wieder nach.

Und nachts schwebte er wieder ueber dem Deiche und gehoerte weder zu der einen noch zu der anderen Seite. Er war ueber dem Ganzen, waehrend der Deich ihm immer schmaler erschien. „Ziemlich unrealistisch, selbst fuer einen Traum“, dachte er, als der Wall zu einer transparenten Grenze wurde. Sie trennte nicht mehr, aber noch nicht verband.

Die Luft wurde schwerer. Die Erde zog ihn wie eine liebende Mutter zu sich an und erinnerte ihn an den Herbst, in jenem er einen unvergesslichen Blaetterfall beobachten durfte. Er verfolgte den Tanz eines einsamen Blatts, das durch einen Windstoss vom Baum weggerissen wurde und erst nach langem Schweben landete. Auf dem Boden wurde es wieder hin und her gerissen zusammen mit den von ihren Plaetzen losgeloesten anderen. Die meisten von ihnen hatten sich bereits beruhigt und gelbe, rote oder sogar braune Haeufchen gebildet, die anderen aber wurden fortgetrieben, waehrend die Verzweifelten in die Unendlichkeit weggefegt wurden …

Dizius sah seinen Kameraden weiterlaufen und wunderte sich, warum er weder seine Abwesenheit noch seine Ankunft wahrnahm. Er wollte ihn einholen und lief immer schneller. Doch als er unaufmerksam die Stelle erreichte, wo sich das Wasser bereits auf dem Deich befand und damit den Weg zum Dorf erkaempfte, rutschte sein Fuss in die kalte Tiefe ab. Die Stroemung riss ihn mit sich und verschlang so schnell, dass seine Hilfeschreie niemanden erreichen konnten. Sein Kamerad bemerkte sein Verschwinden erst spaeter und eigentlich zu spaet …

Er wachte kaltschweissig auf und stellte immer wieder fest, dass er lebte. Dort im Traum ist ein anderer Mensch gestorben und starb regelmaessig, wenn er traeumte. Das Unheimliche war, dass er bis zum letzten Atemzug ueber diesen schmalen Deich nachdachte. Ob er morgen oder uebermorgen noch genauso da steht und die Dorfbewohner vor den Eindringlingen schuetzt oder ist es nur die Zwischenzeit, in der man weder Mut noch Kraft besitzt, in der Gewalt eine Harmonie zu erkennen und in der das Auge noch nicht vermag, die Dinge zu durchschauen statt durchzuschauen.

Die Zeit trennte nicht mehr, aber noch nicht verband.


27.05.2006