Schneit es, ist die Welt verendert

Èðåíå Êðåêåð
Ich erinnere mich oft an die Schulstunden in meiner Heimatstadt Novokusnezk in der Kemerowo Region. Wir Sch;ler waren einer wie der andere in unsere Lehrerin der russischen Sprache und Literatur verliebt, Tatiana Maximovna Maneva. Jedes Treffen mit ihr war wie ein Fest f;r mich, damals ein rothaariges M;dchen mit langen Beinen, das anfing ;ber seine berufliche Zukunft nachzudenken. Eines war ich mir sicher, ich werde Lehrerin f;r russische Sprache und Literatur genau wie Tatiana Maximovna. Ich werde Kindern Gedichte vorlesen und sie in die Welt der Poesie ziehen.
Eines Tages im Winter kam sie ohne gew;hnliche Begr;;ung in die Klasse und, bevor alle still wurden, schaute sie durch das Fenster die fliegenden wei;en Schneeflocken an und begann Gedichte zu lesen. Die Stille kam unverz;glich. Es schien, als ob dieser Schnee den ganzen Klassenraum erf;llte. Die Worte waren einfach, aber meine Phantasie brachte ungew;hnliche Bilder hervor. Und der Schnee wurde zur realen Hauptfigur dieses Geschehens. Die Verse waren unbekannt und wahrscheinlich blieben sie deswegen lange im Ged;chtnis:

„Wenn es schneit, wenn es schneit,
Achten auf die wei;en Sterne
Die Geranien von ferne,
Dicht am Fenster aufgereiht.

Schneit es, ist die Welt ver;ndert –
Schwerelos wird alles, leicht:
Stufen gl;nzen, schwarz umr;ndert,
Und die Kreuzung ist nicht weit.

Wenn es schneit, wenn es schneit,
Sinkt mit seiner Flockenherde
Auch der Himmel selbst zur Erde
Im geflickten Mantelkleid“.

An diesem Tag im Literaturunterricht habe ich zum ersten Mal den Namen des Dichters Boris Pasternak geh;rt. Seinen Vers „Wenn es schneit“ nahm ich als bildhafte Lyrik an und ich tauchte in den Schnee ein, der dank seiner Vorstellungskraft entstanden war. Selbstverst;ndlich erinnerte ich mich an die Geschenke zum Fest und dachte daran, dass sich jedes Jahr in jeglicher Ecke der Welt Gro;e und Kleine w;nschen, dass Weihnachten und das Neue Jahr m;glichst bald kommen, mit Geschenken und mit dem Schnee, der  die Erde mit seiner wei;en Decke verh;llt.
Ich wei; noch, es faszinierte mich wie bildhaft die Verse waren. Ich versuchte, den Reim behaltend, meine eigenen Variationen der Strophenzeilen zu verfassen, die vom Zauber der schneereichen Wintertage erz;hlten. Mit meinen ersten Versuchen des Dichtens war ich im Vergleich mit Boris Pasternak Strophenzeilen nicht zufrieden und habe diese Idee f;r Jahre gelassen.

„Sonderbar nimmt er sich aus,
Dringt in die geheimsten Ecken,
Will an Treppen sich verstecken,
Schleicht vom Speicher bis ins Haus.

Wie das Leben sich doch eilt!
Kommen erst die Weihnachtstage,
Ist sehr bald, ganz ohne Frage,
Dieses Jahr Vergangenheit“.

*  *  *

Zum n;chsten Mal sind mir diese Gedichte in Berlin begegnet. Letztes Jahr im Winter war ich zu Besuch bei meinem Sohn in der Hauptstadt Deutschland, wo wir seiner Empfehlung folgend ins Restaurant mit dem Namen „Pasternak“ kamen. Dies wurde schon zur Tradition in unserer Familie. Mein Sohn las uns damals das im Ged;chtnis aus der Kindheit behaltene Gedicht „Wenn es schneit“ von Boris Pasternak vor. Und dieses Ereignis hatte seine Fortsetzung.
Es geschah, dass unser Sohn das neue Jahr 2015 im beschneiten Sankt-Petersburg startete. Beeindruckt von der nordischen Hauptstadt rief er uns oft an, begeistert von ihren Sch;nheiten. Dort war alles anders und es brachte seine Kindheitsjahre zur;ck ins Ged;chtnis. Er zog Parallelen zum dichtbev;lkerten Berlin, zu seinem Wetter und seinem prallen Kulturleben... Per E-Mail lie; er uns die Fotos zukommen, die von seinem Treffen mit dem Winter in dem russischen Land ein lebendiges Zeugnis ablegten. Mit sechzehn Jahren verlie; er zusammen mit uns den sibirischen Heimatsort und in den folgenden zwanzig Jahren kam er dorthin nicht im Winter zur;ck. Aus meiner Lebenserfahrung wusste ich, dass diese Reise in der Winterzeit in die sch;nste Landesstadt Sankt-Petersburg noch lange in seinem Ged;chtnis bleiben w;rde. Aber es ;bertraf meine Erwartungen, dass er so emotionell auf das Treffen mit dem Winter-Petersburg reagierte.
Ungef;hr zwei Wochen sp;ter kam ein Brief von meinem Sohn, schon von seinem Zuhause - aus Berlin. Jede Strophenzeile des Briefes ist von emotionaler Str;mung und ernsthafter Begeisterung durchzogen:
"Ich spazierte durch die Stra;en Sankt-Petersburgs in meiner hellen Jacke und Pudelm;tze deutscher Art, ich f;hlte den Frost, der durch Mark und Bein ging und h;rte ;ber Kopfh;rer die Gedichte von Boris Pasternak:

Wenn es schneit, wenn es schneit,
Sinkt mit seiner Flockenherde
Auch der Himmel selbst zur Erde
Im geflickten Mantelkleid.

Sonderbar nimmt er sich aus,
Dringt in die geheimsten Ecken,
Will an Treppen sich verstecken,
Schleicht vom Speicher bis ins Haus.

Wahrscheinlich war es Zufall, aber genau dann als ich die beschneite Stadt durchquerte, h;rte ich diese poetischen Strophenzeilen die du, Mutter, uns in einem der harten schneereichen Winter vor dem Umzug f;r den Daueraufenthalt in Deutschland vorgelesen hast. In diesen verschollenen Zeiten dachte ich noch erinnernd: Was, wenn es dort keinen Winter geben wird? Wie soll ich mich von dem auf der Sonne gl;nzenden Schnee; von seinem Duft verabschieden? Wie werde ich ohne ihn leben k;nnen?
In Sankt-Petersburg traf ich einen Schneefall an und ich habe verstanden warum Boris Pasternak so bildhaft und vergeistigt ;ber Schnee spricht. Es schien mir, dass "sinkt... auch der Himmel selbst zur Erde"; dass der Schnee eine unglaubliche Geschwindigkeit hatte; dass er alles mitriss, was sich auf seinem Weg befand. Ich wurde auch von diesem Wind gezogen, dem Wind des Schicksals, dachte ich schon fast. Der Schneefall verband gleichsam den Himmel und die Erde. Ich wusste nicht, wie ich mich aus ihm herauszuarbeiten vermochte. An diesem Tag war ich ziemlich durchgefroren. Aus dem Gespr;ch mit meinen Freunden erfuhr ich, dass zu diesen Gedichten von Sergey Nikitin Musik komponiert wurde, einem bekannten Barden und Liedermacher".
Nun war ich dran ;berrascht zu werden. Ich klickte mich ins Internet ein und ohne Schwierigkeiten fand ich das Lied "Schnee" von Sergey Nikitin auf die Verse von Boris Pasternak und versetzte mich in die Zeit, als ich meinen Kindern und den Sch;lern in der sibirischen Stadt Meshduretschensk die Verse des Dichters vorlas. Was f;r eine M;rchenhaftigkeit wehte mich aus diesen Strophenzeilen an!

„Ja, es schneit, schneit allzu sehr.
Mag den Schnee vielleicht begleiten,
Zwar gemessen und oft schwer –
Dennoch federleicht wie er –
Jener stete Gang der Zeiten?

Jahre ... ;hneln sie vielleicht
All den Flocken, wenn es schneit,
All den W;rtern auf den Seiten?“

Seitdem ich zum ersten Mal die Gedichte von Boris Pasternak geh;rt habe, ist ein halbes Jahrhundert vergangen. Er hat sie im Jahre 1957 geschrieben, in einer schweren Zeit im Leben des Landes und in seinem Leben. 1958 bekam er den Nobelpreis, nachdem sein Roman „Doktor Schiwago“ im Ausland publiziert wurde. Alles, was danach geschah, ist Geschichte f;r uns, aber die Tatsache, dass Boris Pasternak 1960 gestorben ist, auf den Preis verzichtet hat und dass der Roman „Doktor Schiwago“ 1988 in Russland ver;ffentlicht wurde, stellt die Realit;t dar.
Schon l;ngst habe ich verstanden, dass in den Strophen „Wenn es schneit, ist die Welt vom Schnee ver;ndert“ der Dichter in philosophischen Kategorien denkt. Nach einem langen Leben stelle ich mir nicht mehr die Fragen, die uns der Dichter in seiner Zeit gestellt hat. Ich kann seinen Worten nur zustimmen, den Worten ;ber den Gang der Zeit und das Leben in seinem Gang, was der Schnee bezeugt. Dicht h;lt er mit der Zeit Schritt, kommt vom Himmel herab in den Schneestr;men, flimmernd in der Nacht und gl;nzenden am Tag, Schneeflocken die ;ber den Gang des Lebens berichten, wie es langsam zu denselben Schneewolken wird, die uns in die himmlische H;he begleiten.
Und das Leben auf der Erde geht weiter.

„Wenn es schneit, wenn es schneit,
Ist die Welt vom Schnee ver;ndert:
Wei;e Menschen gehen gebeugt,
Pflanzen staunen vor dem Fenster,
Und die Kreuzung ist nicht weit“.