Wenn ich ehrlich sein soll … spiele ich immer noch gern Puppen. Mit meinen fast neun Jahren sollte ich mich dafuer schaemen, denn keine meiner Freundinnen tut es noch. Aber wie soll ich die beiden nur verlassen? Fuer immer auf den staubigen, dunklen Dachboden bringen? Das schaffe ich nicht. Viel zu viel ist zwischen uns, bindet uns aneinander.
Die kleine Malvina mit beweglichen Armen und Fuessen habe ich schon seit Ewigkeiten. Weil sie so eine tolle schlanke Figur hat, kommen ihre pompoesen, prachtvollen Ballkleider besonders gut zur Geltung! Auch die Spitzenbesetzten fantasievollen Abendroben, sowie die knappen Bikinis und Traegerkleidchen. Ach, als ich sie bekam, ging meine Fantasie mit mir durch, ich lernte sofort das Naehen. Jedes, auch noch so kleines Fitzelchen Stoff wurde zu einem wundervollen, einzigartigen, einmaligen Kleidungsstueck fuer meine Malvina! Aus ihren langen blonden Haare liessen sich so tolle Frisuren zaubern … Ich druecke sie ans Herz und leg sie schlafen auf das Bettchen in ihrem Haus. Alles, aber auch alles habe ich ihr selbst gemacht. In einen Karton Fenster reingeschnitten, kleine Gardinen davor. Moebel aus allem, was mir nur unter die Haende kam, gebastelt. Betten, Vorhaenge, Teppiche und Kleidung genaeht. Sogar ein Kind habe ich ihr gegeben, den klitzekleinen, aus der Mode gekommenen (Pups.) Zusammen haben wir ihn versorgt und erzogen, ihn wieder aufgepaeppelt und verarztet, wenn der Hund sich ihn mal geschnappt hatte …
Ich lege alles ordentlich zusammen, mach den Karton zu. Nein, ich kann in noch nicht wegbringen. Noch nicht.
Dann nehme ich meine Schuelerin in die Arme. Jedes Mal, wenn ich sie an mich druecke, spuere ich, wie ihr kleines Herz an meine Brust schlaegt. Sie hat keinen anderen Namen, auf dem Etikett stand einfach „Schuelerin“. Und so nenne ich sie auch. Die habe ich noch nicht so lange. Als ich sie zu Weihnachten bekam, wollte ich meinen Augen nicht glauben! Es war der Traum aller Traeume! Fast so gro;, wie ich, hatte sie ein braunes Schulkleid an, genau wie meins auch, am Kragen und Manschetten mit wei;er Spitze besetzt. Sie hatte eine weisse Schuerze um, und eine schneeweisse seidene Schleife in ihren duftenden Locken! An den Fue;en trug sie Soeckchen und jedenfalls braune Lederschuhe. Aber die Kroenung war, dass sie ihre Augen schliessen konnte, und wenn man die Puppe kippte, rief sie, wie es mir schien, hilferufend „Ma-ma.“ Solche schoenen Puppen hatten nur wenige Maedchen in meinem Freundeskreiss. Ich wurde um sie beneidet, und sie wurde nur noch bewundert!
Lange traute ich mich nicht mit ihr richtig zu spielen, sie mit nach draussen zu nehmen – viel zu schoen war sie, viel zu kostbar. Aber irgendwann bekam auch sie von mir neue Kleider, Hosen und Jacken. Schliesslich musste die Schuluniform auch mal gewaschen werden. Da sie so gross war, hatte ich nur selten passende Stoffstuecke um etwas zu Naehen fuer sie. Deshalb bekam meine Schuelerin meistens meine ausrangierte Kleidung, die ich f;r sie dann zurechtschnippelte. In der Puppenwiege konnte sie nicht schlafen, da passte sie nur im sitzen rein, deshalb wurde im Sommer der uralte ausgediente Kinderwagen vom Dachboden geholt, der dafuer perfekt geeignet schien. Wir beide fuhren ueberall rum, ich sang ihr Kinderlieder vor, die auch mir vorgesungen wurden, als ich klein war. Die Lieder sind alle auf Plattdeutsch, einem niederdeutschen Dialekt, der Umgangssprache bei uns im Dorf ist. Meine Schuelerin schlaeft artig im Schatten, wenn ich mal im Haushalt helfen muss und gruesst mich mit ihrem zarten „Ma-ma“, wenn ich sie wieder in den Arm nehme.
Im Kinderwagen war Platz genug auch fuer andere Puppen, so dass nicht selten auch meine Malvina, auch die Puppen meiner Freundinnen mit dabei waren. Bepackt mit Kissen und Decken transportierten wir sie dann stolz von Hof zu Hof, wohin es uns gefiel.
Es passierte einen Sommer danach. Wie es in den Schulferien ueblich ist, besuchen Bekannte und Verwandte aus anderen Ortschaften sich oft gegenseitig mit ihren Kindern. So auch dieses Mal hatten wir zahlreichen Besuch diese Woche. Mutter hatte die Haende voll zu tun, auch ich musste oft mithelfen und sogar f;r Unterhaltung sorgen: das Rumfuehren der Gaeste zum Einkaufen oder zu Anverwandten im Dorf wurde zu meiner Aufgabe gemacht. Leider waren dieses Mal keine Kinder in meinem Alter dabei, nur etwas Aeltere. Die gaben sich mit meiner Gesellschaft nur dann ab, wenn sie mal etwas Besonderes von mir wollten, oder ich sie zur abseits gelegenen Baugrube fuehren duerfte, die mit fliessendem Wasser gefuellt war und eine hervorragende Bademoeglichkeit abgab. Das kraenkte mich ein wenig, ich haette doch so gern mit den Grossen mehr unternommen! Na ja …
Als die Gaeste abgereist waren, kehrte Ruhe ein und ein wenig Langeweile. Jeder ging seiner gewohnten Beschaeftigung nach, und ich holte aus der Scheune, wo er voruebergehend wegen Platzmangel abgestellt war, meinen Puppenwagen …
Ich kann mich nicht daran erinnern je in meinem Leben so einen Schmerz empfunden zu haben. Als ich die Decke zur Seite schlug um meine Puppen in Empfang zu nehmen, erstarrte ich vor Entsetzen: dort lag meine Schuelerin nackt, mit abgetrenntem Kopf und Gliedern. Die Augen waren zu, der nackte Rumpf hellte hilflos im Halbdunkeln der Scheune, Arme und F;;e lagen daneben. Mein Verstand weigerte sich es wahrzunehmen, die Traenen liefen nur so das Kinn runter. Meine Schuelerin war tot. Der Schmerz darueber war so entsetzlich gross, dass ich keine Kraft besass jemandem davon zu erzaehlen.
Ich versteckte mich hinter dem Haus, wo mich keiner sehen konnte und versuchte vergebens die Puppe wieder zusammenzuflicken. Die Gummibaender, die alle Glieder zusammengehalten hatten, waren mit Gewalt zerrissen, ihre Lippen und Baeckchen mit Nagellack bemalt. Ich heulte ununterbrochen in meiner Aussichtslosigkeit. Aber ich brachte es nicht ;ber mich es jemandem zu sagen, meinen Kummer zu teilen. Ich wei; nicht, was mich davon abhielt, Scham? Angst ? Aber wovor? Es ist doch nicht meine Schuld, oder?
Es war ein merkwuerdiges Gef;hl, dass mich innerlich erstarren lie; …
Es vergingen Tage und ich trauerte immer noch im Stillen ueber meine Schuelerin. Alle Versuche sie wiederherzustellen schlugen fehl. Ich fand keinen Ausweg und beschloss sie zu begraben. Im Vorgarten unter der Riesen-Pappel grub ich ein Loch, wickelte meine Puppe in die Decke und legte sie da rein …
Dabei erwischte mich Vater. Nun musste ich alles beichten. So scheinbar gleichgueltig, wie ich es nur bringen konnte, erzaehlte ich alles. Und wieder ueberkam mich dieses fuer mich selbst unbegreifliche Schamgefuehl, gemischt mit dem alles erdrueckenden Gefuehl der Endgueltigkeit. Schaemte ich mich fuer meine Empfindungen, oder fuer die unerhoerte Grausamkeit und Feigheit anderer Menschen? Oder fuer die Nacktheit und Schaendung meiner Puppe …?
Mithilfe eines selbstgebastelten Hackens und eines neuen Stuecks Gummiband, gelang es Vater die Puppe halbwegs zu reparieren. Ich badete sie und kratzte ihr die Reste vom Nagellack vom Gesicht. Warm eingepackt schlief sie im Kinderwagen. Schien wieder alles behoben zu sein.
Aber nein, war es nicht. Etwas war entschwunden, unwiderruflich weggegangen. Ich liebte meine Schuelerin nicht weniger, aber ... nicht mehr mit dieser Entzueckung und Begeisterung, sondern eher mitleidig, mehr aus Erbarmen, als aus Zuneigung. Wie man einen sterbenskranken Menschen liebt.
Auch sie verstummte, sagte nicht mehr „Ma-ma“ zu mir …
Ich beschliesse meine Puppen nicht auf den Dachboden zu bringen, sondern im grossen Dielenschrank in der unteren Schublade zu beherbergen. Dort kann sie keiner finden, aber ich kann sie jederzeit besuchen. Wann immer wir uns sehen wollen.