Helju Rebane Erzaehlungen und Humoresken

Õåëüþ Ðåáàíå
HELJU REBANE

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Erza"hlungen und Humoresken




                Aus dem Russischen
                von Dagmar Ba"umler
 

 
EIN SELTSAMES SPIEL

Abends spielten wir Schach.
Einmal, als die Silhouetten der Palmen hinter der Glaswand im Foyer des Erholungsheimes bereits in der Dunkelheit verschwammen und die Spieler auseinander gingen, trat ein Unbekannter auf mich zu. Er sah wie vierzig aus. Ein angenehmes ;u;eres. Doch ein sonderbarer, rastloser Blick.
Er bat mich, eine Partie mit ihm zu spielen.
Wir setzten die Figuren. Ich wartete, dass er den ersten Zug machen w;rde, doch plo"tzlich war er wie versteinert und starrte vor sich in die Luft. Mich hatte er offenkundig vergessen.
"Fangen Sie an", sagte ich ungeduldig.
Er zuckte zusammen:
„Ja, natyrlich. Die Weissen sind meine... Entschuldigen Sie.“
     Er dachte angestrengt yber jeden Zug nach, machte jedoch bald einen groben Fehler und verlor.
     Als er sah, dass ich gehen wollte, begann er hastig zu erkla"ren:
     „Warten Sie, ich bitte Sie. Ich hatte nicht mit einem Sieg gerechnet. Ich habe Sie gefragt, weil Sie hier der sta"rkste Spieler sind. Ich mo"chte Ihnen aber vorschlagen, nach anderen Spielregeln zu spielen. Und zwar: Vor jedem Zug werden wir eine Mynze werfen, wer den n;chsten Zug macht. Wenn die Situation Schach dem K;nig des Gegners entsteht, geht der Zug automatisch an den Partner.“
„So kann doch jeder mehrere Zyge hintereinander machen. Das Spiel verliert seinen Sinn“, sagte ich, stand vom Tisch auf und gab damit zu verstehen, dass das Gespr;ch beendet  sei.
     „Aber nein. So bekommt es erst einen tieferen Sinn“, sagte er.
Da er offensichtlich meine Gedanken gelesen hatte, f;gte er hinzu: „Nein, ich bin nicht verr;ckt... Spielen wir?“
     „Morgen.“
      Er lie; sich aber nicht so leicht absch;tteln. Er begann, mich inst;ndig zu bitten, regelrecht anzuflehen.
      Ich gab nach. Verr;ckten muss man nachgeben.
Ich w;hlte die sizilianische Verteidigung. ;berhaupt ist es albern, davon zu sprechen, denn bald entstand eine Position, die mit dieser Verteidigung nicht das geringste zu tun hatte. Zuerst hatte ich Gl;ck, doch dann konnte er vier Z;ge hintereinander machen und ich verlor.
Jetzt hing das Spiel vom Zufall ab und es war unklar, welchen Plan man w;hlen sollte. Gew;hnlich denke ich drei-vier Z;ge im voraus, jetzt aber w;re ein Computer nicht schlecht...
Es verbl;ffte mich, dass dieser  - v;llig unverdiente – Sieg meinen Partner in eine so unbeschreibliche Begeisterung versetzte.
„Sehen Sie!“, rief er aus. „Sie sind viel st;rker als ich, doch das Gl;ck war auf meiner Seite und ich habe gewonnen!“ Und Sie haben verloren!“
Obwohl die Situation so absurd war, haben mich diese Worte sehr ber;hrt. Stellt der Zufall den Starken und den Schwachen wirklich auf eine Stufe? Das kann nicht sein...  Nun schlug ich ihm vor, noch  eine Partie zu spielen. Und verlor wieder. Er hatte wirklich Gl;ck.
Pl;tzlich begriff ich, welche Taktik die Chancen des Gegners auf einen Sieg verringert. Man muss immer davon ausgehen, dass die n;chsten drei-vier Z;ge nicht deine Z;ge sind. Dass ein Spieler f;nf Z;ge hintereinander haben konnte, kam selten vor. Das Spiel wurde eint;nig und langweilig, denn man musste vor allem den Schach dem eigenen K;nig verhindern, damit der Zug nicht an den Gegner ging.
Da es nur um Wahrscheinlichkeit ging, konnte diese Taktik den Erfolg nur sichern, wenn man sehr viele Partien spielte.
Ich wollte meine Hypothese ;berpr;fen. Mich packte die Leidenschaft. Ich machte ihm den Vorschlag, zwanzig Partien hintereinander zu spielen, und fragte ihn, welcher Vorsprung ihn von der ;berlegenheit des Gegners ;berzeugen w;rde.
„Ich denke f;nfzehn : f;nf ist v;llig ausreichend. Doch das wird nicht passieren.“
Wir beendeten das Spiel lange nach Mitternacht. Ich gewann zw;lf Partien, verlor drei, die ;brigen waren Remis.
Ich triumphierte und achtete nicht auf seinen traurigen Blick. Im Lift nach oben zu meiner Etage ;berlegte ich laut, welche Prinzipien man bei dieser Spielvariante noch anwenden k;nnte. Er schwieg und schaute abwesend.
„Wie sind Sie darauf gekommen, das Schachspiel so zu modifizieren ?“, fragte ich.
„Ich habe viel ;ber das Leben nachgedacht“, antwortete er immer langsamer und atmete schwer.
„Das Lebensmodell?“, mutma;te ich.
„Ja. Allerdings war ich bis heute der Meinung, dass der Zufall dem Schwachen die M;glichkeit bietet, den Starken zu besiegen.“
„In einer Partie – ja, aber ein ganzen Spiel gewinnen... Nein, das ist ausgeschlossen.“
„H;tte ich lieber nicht mit Ihnen gespielt“, brachte er ganz leise hervor.
„Nehmen Sie es sich nicht so zu Herzen“, sagte ich. „Das ist doch nur ein Spiel.“
Der Lift hielt in der neunten Etage, er stieg aus ohne sich zu verabschieden.
Noch immer in Gedanken an m;gliche Spielvarianten betrat ich mein Zimmer.
Durch die offene Balkont;r kam die samtene s;dliche Nachtluft herein. Ich trat auf den Balkon hinaus. Am schwarzen Himmel funkelten hell die Sterne. Hin und wieder  durchschnitt ein Scheinwerferstrahl die Dunkelheit ;ber dem Meer. Ohne Unterlass zirpten die Zikaden. ‚Was f;r eine wundervolle Nacht!’, dachte ich. ‚Das Leben ist wunderbar!’
Beim Fr;hst;ck sagte mein Tischnachbar zu mir:
„Haben Sie geh;rt, was Schreckliches passiert ist? Ein Mann hat sich in der Nacht aus der neunten Etage herunter gest;rzt. Furchtbar. Ich kannte ihn ;brigens ein bisschen. Abends kam er auch, um beim Schachspiel zuzusehen. Er wirkte auf mich seltsam. Seine Frau hat ihn vor kurzem verlassen, er hat mir ganz verworren davon erz;hlt. Sie hat einen anderen, einen ‚gl;nzenderen, erfolgreicheren’, wie er sich ausdr;ckte. Doch er hoffte, sie wieder zur;ck zu erobern. Er hat immer wiederholt: ‚Ich werde Gl;ck haben, ganz bestimmt...’“

Ich schwieg ersch;ttert. Ich ha"tte also verlieren m;ssen, damit er unter allen Umst;nden dieses seltsame Spiel weiterspielt. Ich h;tte...
 
JEDES LOS  GEWINNT

Schlaflosigkeit plagte mich. Manchmal konnte ich bis zum Morgen nicht einschlafen. In diesen  qu;lenden N;chten dachte ich dar;ber nach, wie viel Pech ich doch im Leben habe. Ich bin Buchhalter. Schon zwanzig Jahre lang. Meine Altersgenossen haben sich Autos und Datschen zugelegt... Und was habe ich? Ein kleines Zimmer. Im Stadtzentrum, aber in einem alten Haus mit Ofenheizung. Die Frau, die ich geliebt habe, hat einen anderen geheiratet, einen Autobesitzer.
Einmal, nachdem ich mich bis zwei Uhr morgens von einer Seite auf die andere gew;lzt hatte, zog ich mich an und verlie; das Haus.
Es war dunkel und still. Vereinzelte Lampen erhellten matt die engen gepflasterten Gassen und die alten eng aneinander gedr;ngten Steinh;user.
Nachdem ich an einigen dunklen Stra;en vor;bergegangen war, erblickte ich in der Ferne einen Lichtschein und ging darauf zu. Da war ein Zeitungskiosk hell erleuchtet. Die Verkaufsluke war offen, aber kein Verk;ufer drin. Auf dem Verkaufstisch lagen Zeitungen und daneben ein Stapel Lotterielose.
Ich wollte wissen, warum der Kiosk um diese ungew;hnliche Zeit ge;ffnet war. W;hrend ich auf den Verk;ufer wartete, nahm ich ein Los aus dem Stapel. Ein ganz normales Los einer Geld- und Sachwertlotterie. Pl;tzlich las ich in einer Ecke den Aufdruck „Jedes Los gewinnt“. Sicher eine billige Lotterie, dachte ich, wie auf M;rkten. Der Hauptpreis – ein Pl;schb;r. Doch da sind die Lose einfach kleine Zettel mit handschriftlichen Nummern darauf. Die hier aber haben sowohl eine Seriennummer als auch ein Wasserzeichen. Da wird sicher eine Gewinnliste ver;ffentlicht.
Pl;tzlich wollte ich wahnsinnig gern gewinnen. Das Los kostet nur 30 Kopeken... Ich sah mich nach allen Seiten um. Keine Menschenseele. Nur eine seltsam bedr;ckende Stille. Schnell steckte ich ein Los in die Tasche und eilte nach Hause. Ich war noch keine zwanzig Schritte gegangen, als ich das Gef;hl hatte, mich verfolge jemand. Erschrocken blieb ich stehen. Einen Augenblick sp;ter huschte ein Tier vor;ber. Ein Hase. Er lief irgendwie seltsam, setzte die Pfoten wie eine Katze. Er hat mich so erschreckt!
Einen Monat sp;ter ging ich in eine Bank, um mich nach der Gewinnliste zu  erkundigen. Als sie den Aufdruck „Jedes Los gewinnt“ gelesen hatte, wunderte sich die Kassiererin:
„Das sehe ich zum erstenmal. Woher haben Sie das Los?“
Ich machte mich schnell davon. Ich beschloss,  am Kiosk Erkundigungen einzuholen. Doch auch die Verk;uferin dort sagte, dass sie diese Lose nicht verkauft h;tte.
In der Nacht konnte ich wieder nicht schlafen. Zu meinen ;blichen freudlosen Gedanken kamen nun die ;berlegungen zu dem r;tselhaften Los hinzu. Schlie;lich stand ich mitten in der Nacht auf und ging zu besagtem Kiosk.
Diesmal sa; hinter dem hellerleuchteten Verkaufstisch ein ;lterer Mann mit Brille.
„Entschuldigen Sie, gibt es denn wirklich zu dieser sp;ten Stunde Kunden?,“ fragte ich.
„Und ob“, antwortete er mit einer seltsam piepsigen Stimme. „Sie zum Beispiel.“
Seine Worte kamen mir wie eine Anspielung vor. Sicher kam es mir nur so vor, beruhigte ich mich. Auf dem Verkaufstisch lag, wie beim letzten Mal, ein Stapel Lotterielose.
Der Verk;ufer fing meinen Blick auf:
„M;chten Sie?“
„...Nein, danke. Ich habe schon so ein Los...“
Ich zog das Los aus der Tasche und reichte es ihm.
Er wendete es hin und her:
„Ja, das ist die Lotterie ‚Jedes Los gewinnt’. Ich kann mich gar nicht erinnern...  Wann habe ich es Ihnen verkauft?“
„Ich habe es geschenkt bekommen. Von einem Freund“, antwortete ich und wich seinem Blick aus.
Der Verk;ufer sah mich eindringlich an, beugte sich dann nieder und zog unter dem Verkaufstisch eine dicke Mappe hervor. Das war die Liste. Lange fuhr er mit dem Finger ;ber die Spalten und schlie;lich fand er meine Nummer.
„Sie haben zehntausend gewonnen.“
„Unm;glich!“
Er l;chelte seltsam und streckte mir die Liste hin.
„Wenn Sie sich selbst ;berzeugen wollen!“
Tats;chlich: 10 000! Ich verglich die Serie, die Nummer. Es war alles richtig.
„Wann und wo kann man den Gewinn bekommen?“, fragte ich, ohne wirklich an mein Gl;ck zu glauben.
„Einen Augenblick!“
Er holte unter dem Verkaufstisch einen Packen Hundertrubelscheine hervor und z;hlte mir hundert St;ck ab.
Verdattert sah ich den Packen Geld an, nahm ihn vorsichtig in die Hand. Ist das wirklich meins?
Pl;tzlich beugte sich der Verk;ufer n;her zu mir hin und fl;sterte:
„Wo wollen Sie das aufbewahren?“
Unwillk;rlich fl;sterte ich zur;ck:
„Darf man ... nicht zu Hause?“
„Besser nicht“, fl;sterte er.
„Wo dann? Bei der Sparkasse?“
„Auf gar keinen Fall.
Seine Augen hinter den sehr dicken Brillengl;sern kamen mir jetzt unnat;rlich gro; vor. Von dem durchdringenden Blick dieser krankhaft hervorstehenden Augen wurde mir unheimlich. Pl;tzlich strahlte er und rief aus:
„Die beste Variante ist die klassische!“
Ich zuckte zusammen und sah mich um. So unerwartet kam dieser ;bergang vom Fl;stern zum Schreien.
„Was meinen Sie?“
„Also-o! So was muss man wissen“, antwortete er fr;hlich, nun wieder fl;sternd. „Die Gep;ckautomaten. Auf dem Bahnhof.“
Das ist ein sicherer Ort, dachte ich. Und wenn etwas Unvorhergesehenes passiert, kann man sagen, dass das Geld nicht mir geh;rt. Aber... was kann denn passieren?
Der Verk;ufer unterbrach meine ;berlegungen und reichte mir einen Leinensack.
„Legen Sie das Geld in den Leinensack und in das Gep;ckfach!“
So machte ich es.
Als ich vom Bahnhof nach Hause kam, fing ich an zu tr;umen.
Soviel Geld! Zuerst kaufe ich mir eine Genossenschaftswohnung. Oder nein – ein Auto. Doch dann reicht es nicht mehr f;r die Wohnung. Au;erdem brauche ich eine Garage. Was ergibt sich daraus? Zehntausend ist gar nicht so viel? Pl;tzlich begriff ich: Ich k;nnte noch mehr Lotterielose kaufen, und nicht zu wenig! Jedes Los gewinnt. Das ist eine sonderbare Geschichte, doch das Geld ist echt. Und wenn nicht? Das muss ich heute noch ;berpr;fen. Ich wollte mir schon lange einen neuen Anzug kaufen.
Am Tage, ungeduldig hatte ich die Mittagspause erwartet, ging ich auf den Bahnhof. Ich ;ffnete das Gep;ckfach und war einen Augenblick starr vor Schreck - der Sack war leer! Ich traute meinen Augen nicht, schwenkte den Sack hin und her, legte ihn zur;ck und schloss die T;r.
Wo ist das Geld hin? Vielleicht hat mich jemand verfolgt? Vielleicht ist mein Leben in Gefahr? Grauen erfasste mich, dass mich jemandes Augen beobachteten. Ich sah mich nach allen Seiten um. Nichts Verd;chtiges. Vielleicht war das alles blo; eine Erscheinung  - der Kiosk, das Los, das Geld. Und der Sack? Der ist doch auch jetzt hier...
In der Nacht zog es mich wie magnetisch zu dem Zeitungskiosk.
Hinter dem Verkaufstisch sa; besagter Verk;ufer.
„Und?“, fragte er und sah mich durchdringend an.
Diese sonderbar famili;re Anrede verwirrte mich v;llig.
„Das Geld...“, murmelte ich.
„Ist alle? So schnell?“
Er griff nach einem Packen Lose, f;cherte sie auf und streckte sie mir entgegen:
„Bitte sehr!“
„Das Geld ist weg“, stie; ich verwirrt hervor und erz;hlte ihm, was geschehen war.
Als ich geendet hatte, sagte er:
„Machen Sie sich keine Gedanken, Ihr Geld ist unangetastet. Sie wollten sich am Tage einen Anzug kaufen, stimmt’s? Merken Sie sich: Das, was Sie in der Nacht gewonnen haben, k;nnen Sie auch nur nachts nutzen. Tags;ber l;st sich dieses Geld in Luft auf. Ich wei; nicht, warum, aber das ist so.“
„Was macht denn solch Geld f;r einen Sinn?“
Er zuckte die Achseln.
„Gehen Sie dazu ;ber, nachts zu leben. Das machen alle so.“
„Wer alle?“
„Die Gewinner unserer Lotterie!“, rief er stolz aus. „Wagen Sie es! Was macht es Ihnen schon aus? Wer viel Geld am Tage hat, schl;ft nachts, und sein Geld schl;ft auch. Es ist gewisserma;en f;r eine ganze Nacht verschwunden. Und bei Ihnen ist es umgekehrt! Die Gesch;fte sind zwar nachts geschlossen, doch bedenken Sie, dass alle unsere Kunden sehr luxuri;s gekleidet sind. Es gibt ;brigens das ‚Nachtrestaurant’, das ist bis vier Uhr morgens ge;ffnet. Hier ganz in der N;he. Gehen Sie mal hin, Sie werden es nicht bereuen.“
Nachdem er mich forschend angesehen hatte, f;gte er hinzu:
„Schlie;lich ist doch allein das Bewusstsein, dass man Geld hat, schon sehr viel wert!“
Er erkl;rte mir, wo das Restaurant ist, doch ich ging erst zum Bahnhof. In dem Sack lag wieder ein Packen Hunderter. Ich nahm einen Schein und betrachtete ihn lange. Von einem Tages-Geldschein nicht zu unterscheiden. Wenn doch dieses Geld blo; tags;ber nicht verschwinden w;rde!
Ich verschloss das Gep;ckfach wieder und ging in das „Nachtrestaurant“. Der Portier ;ffnete dienstbeflissen die T;r, und ich sah im D;mmerschein eine Steintreppe, die nach unten f;hrte. Ich ging hinunter, ;ffnete eine weitere T;r. Es war hei;, Stimmengewirr dr;hnte und die Luft  war verraucht. Von der niedrigen Decke hingen kugelige Leuchter herab, die den Raum in r;tliches Licht tauchten.
Am Eingang war ein Tischchen frei. Ich setzte mich und fing an, die Anwesenden zu betrachteten. Die M;nner trugen modische Lederjacken. Einige hatten sie bereits ;ber die Stuhllehnen geh;ngt. Die Frauen hatten funkelnde Ohrringe, wahrscheinlich Brillianten. Angesichts dieser G;ste nahm ich mich wohl unanst;ndig bescheiden aus.
Als der Ober die Speisekarte brachte, wurde ich froh und munter. Kaum zu glauben, ich kann mir jetzt alles leisten! Und je mehr, umso besser. Ich kann mit dem Geld nirgendwo hin, im wahrsten Sinne des Wortes. Ich bestellte eine Flasche franz;sischen Kognak, teure Vorspeisen und Grillh;hnchen.
W;hrend des Mahls sann ich dar;ber nach, ob hier Teilnehmer an der Lotterie „Jedes Los gewinnt“ anwesend waren. Ich konnte niemanden fragen, und wahrscheinlich h;tte ich mich das auch nicht getraut.
Sp;ter, als ich durch die dunklen Stra;en nach Hause ging, erfasste mich mal heiteres Frohlocken, mal panische Angst: Wie weiter?  Pl;tzlich fiel mir ein, dass der Hundertrubelschein, den ich dem Ober gegeben hatte, am Morgen verschwinden wird. Er wird das nat;rlich merken. Kann ich also in dieses Restaurant nicht mehr gehen? Daf;r habe ich jetzt sechzig Rubel Tages-Geldscheine, das Wechselgeld. Man m;sste das ganze Nachtgeld in Tagesgeld umtauschen! Wenn es wenigstens f;r einen Tag nicht verschwinden w;rde! Ich w;rde durch die Gesch;fte gehen und es umtauschen. Oder man k;nnte morgens die gesamte Summe zur Sparkasse bringen und abends wieder abholen. Nein, das erregt Verdacht. Man wird das Manko feststellen und sich an denjenigen erinnern, der diese Summe abgeholt hat. Wozu diese sinnlosen Mutma;ungen... Das Geld ist da und auch wieder nicht.
Doch eine Verwendung muss es finden!
Pl;tzlich kam mir die Erleuchtung: der Bahnhof! Er ist  die ganze Nacht ge;ffnet. Dort ist ein Restaurant und ein Imbissstand. Vor allem aber die Leute im Wartesaal. Was, wenn... Sie fahren schlie;lich mit dem Nachtzug und bemerken das Verschwinden des Geldes erst fern von unserer Stadt. Ja, bei ihnen kann man das Geld umtauschen. Allerdings sind f;r manche von ihnen hundert Rubel sehr viel Geld. Nein, dazu bin ich nicht f;hig.
Im Morgengrauen schlief ich ein und mittags wachte ich wieder auf. Ich ging zur Arbeit, hatte mich kaum an meinen Tisch gesetzt, als der Chef in der T;r erschien und mich anschrie:
„Was erlauben Sie sich! Wir m;ssen dringend den Bericht abliefern! Sie sind gestern fr;her gegangen und heute erst mittags erschienen!“
Ich sah sein rotangelaufenes Gesicht, seinen speckigen Jackenkragen und dachte:  Von zehntausend kann der nicht mal tr;umen. Drei Kinder, die Frau sitzt zu Hause. Also, ein Chefgehalt geteilt durch f;nf.
Er redete sich aber immer mehr in Rage:
„Was, zum Kuckuck, erlauben Sie sich!“
Richtig, ich kann es mir erlauben, dachte ich pl;tzlich schadenfroh. Ich kann es mir erlauben, und du nicht. Ich stand auf und sagte herausfordernd:
„Eben. Ich erlaube es mir.“
Stille trat ein. Die Kollegen sahen mich erschrocken an. Schlie;lich fand der Chef die Sprache wieder:
„Dann schreiben Sie Ihre K;ndigung.“
Und verlie; das Zimmer.
„Mit dem gr;;ten Vergn;gen!“, rief ich ihm hinterher „Davon tr;ume ich schon mein ganzes Leben! Mich von dieser Gesellschaft von Insekten zu verabschieden!“
Ich war selbst verwundert, was da in mich gefahren war. Ich nahm ein Blatt Papier, schrieb mit zitternder Hand die K;ndigung und brachte sie dem Chef.
Die Lohnabrechnung bekam ich ein paar Tage sp;ter.
Der Chef bestand nicht darauf, dass ich die gesetzlich vorgeschriebene Frist noch abarbeitete, und alle Kollegen waren darauf bedacht, mir aus dem Weg zu gehen.
Freiheit! Es gab keinen Grund zur Sorge. Was kann einen Menschen umhauen, wenn er Geld hat? Essen werde ich im „Nachtrestaurant“. Wer will denn beweisen, dass gerade mein Geld verschwindet? Und wenn sich das Beweisst;ck in Luft aufgel;st hat?
In der Nacht ging ich wieder zu dem Kiosk. Ich wollte noch zehn Lose kaufen, doch der Verk;ufer konnte auf meinen Hundertrubelschein nicht herausgeben.
„Nehmen Sie doch die ganze Ladung!“  sagte er.
Seine famili;re Anrede ber;hrte mich unangenehm, aber eigentlich hatte er recht. Was hatte ich zu verlieren? „Jedes Los gewinnt“. So wurde ich Besitzer von weiteren dreihundertdreiunddrei;ig Losen. Ich stopfte sie in die Taschen, und die F;;e trugen mich wie von selbst in Richtung Bahnhof.
Auf dem Bahnhof war der Imbissstand ge;ffnet, aber mehr als einen Zehner kann man da nicht ausgeben, auch wenn man sich noch soviel M;he gibt. W;rstchen, Kaffee mit Milch, Kekse und Schokolade. Ich wollte eine Portion W;rstchen und ein Glas Kaffee nehmen, da fiel mir aber ein, dass ich nur Hunderter hatte. Die Imbissverk;uferin wird sich sicher an mich erinnern... Nicht zu glauben, da hat man zehntausend und kann sich nicht mal eine Portion W;rstchen kaufen!
Ich nahm allen Mut zusammen und ging in den Wartesaal. Auf den B;nken sa;en Leute und d;mmerten vor sich hin. Ich ging auf einen Mann zu und bat ihn, mir hundert Rubel zu wechseln. Er sch;ttelte den Kopf, er hatte nichts. Ich  wandte mich an seinen Nachbarn. Dieselbe Geschichte. Da hatte eine Frau pl;tzlich Mitleid mit mir und bot selbst Wechselgeld an. Ich bekam vier Tages-Geldscheine, dankte ihr und verlie; schnell den Bahnhof. Mein Herz h;mmerte nicht nur vor Freude, dass mein Plan die ersten Fr;chte getragen hatte, sondern auch vor Angst. Wenn sie mich nun einholt und mich des Betrugs beschuldigt?
Am Taxistand standen einige Autos mit gr;nem Freizeichen. Unwillk;rlich dachte ich: Noch eine M;glichkeit zum Wechseln. Als ich von dem Bahnhofsvorplatz in eine Gasse einbog, kam es mir so vor, als ob sich in der Ferne im Dunkel etwas bewegte. Einen Augenblick sp;ter sprang mir ein Hase entgegen. Sehr schnell setzte er die Pfoten und sauste an mir vor;ber. Ich sp;rte, dass ich am ganzen K;rper zitterte. Woher konnte denn hier ein Hase kommen?
Einige Wochen sp;ter erhielt ich den Gewinn. Auf ein Los waren ganze zweihunderttausend entfallen, auf ein anderes nur f;nfundsiebzig Kopeken. Insgesamt kam jedoch eine fantastische Summe zusammen. Ich musste sogar nach Hause gehen und einen kleinen Koffer holen.
„Z;hlen Sie sofort nach, damit alles seine Ordnung hat“, sagte der Verk;ufer immer wieder, als er mir das Geld ;bergab.
Als der Koffer voll war, wusste ich, dass ich jetzt achthundertneunundsiebzigtausenddreihundertsechsundf;nfzig Rubel und f;nfundsiebzig Kopeken hatte.
„Etwa neun Millionen!“, rief der Verk;ufer aus. „In altem Geld, meine ich. Na, jetzt fangen Sie an zu leben. Gl;ckwunsch!“
Ich brachte den Koffer in die Gep;ckaufbewahrung und machte mich auf den Weg ins „Nachtrestaurant“. Jetzt hatte ich auch Kleingeld und brauchte keine Angst mehr zu haben.
Ja, fr;her dachte ich, dass mir nichts Au;ergew;hnliches passieren k;nnte, und nun das! Ich war gl;cklich.
Das Restaurant war wie beim letzten Mal voll und laut. Ich setzte mich an einen Tisch, da kam auch schon derselbe Ober. Er sah mich irgendwie seltsam an und reichte mir die Speisekarte. Ich konnte aber nicht lesen. Warum sieht er mich so an? Warum geht er nicht wieder? Gleich wird er sagen: Geben Sie die hundert Rubel zur;ck...
„ Was haben Sie gew;hlt?“ h;rte ich die Stimme des Obers.
„Bringen Sie das gleiche...“
Er tat, als h;tte er mich nicht verstanden.
„Entschuldigung... was?“
Ich hatte keine Kraft mehr, so zu tun, als sei ich ganz ruhig.
„Irgend etwas“, sagte ich und sah ihn unverwandt an, um zu zeigen, dass ich wei;, dass er wei;, dass ich aber keine Angst vor ihm habe.
Einige Sekunden sah er mich schweigend an und entfernte sich dann. Als er wiederkam, stellte er alles auf den Tisch und griff nach meinem Jacken;rmel.
Ich zog heftig den Arm weg und erstarrte. Das Blut h;mmerte in meinen Schl;fen. Fort, nur fort von hier!
„Entschuldigen Sie“, sprach er und sah mich verwundert an. „Sie haben einen Faden am ;rmel.“
Ich sah, dass er einen groben Faden von dem Sack in der Hand hielt,  und brachte mir M;he hervor:
„Danke.“
Die schrecklichen Gedanken lie;en mir keine Ruhe. Der Faden. Der Ober hatte das mit einem Unterton gesagt. Ich versuchte mich zu beruhigen, begann zu essen, sp;rte aber, wie meine H;nde zitterten. Der Faden. Der Sack. Er wei; es! Doch woher? Pl;tzlich durchfuhr es mich eiskalt vor Schreck – am Nebentisch sa; die Frau vom Bahnhof, die das Geld gewechselt hatte. Sie sah in meine Richtung. Die andere hatte zwar helles Haar gehabt und diese war br;nett. Wenn das aber eine andere ist, warum sieht sie mich dann so an? Pl;tzlich kam ich drauf: Sie hatte sich die Haare gef;rbt, um mich zu verfolgen!  Ich stand schnell auf und ging seitw;rts, ohne den Blick von ihr zu wenden, Richtung Ausgang. Hals ;ber Kopf st;rzte ich die Treppe hinauf, stie; die T;r auf und lief die Stra;e entlang. Hinter mir h;rte ich Stimmen, Schreie, ich wurde schneller, rannte in eine Gasse. F;r einen Augenblick erstarrte ich, in der Gasse bewegte sich etwas in der Dunkelheit, atmete. Pl;tzlich sah ich, wie sich eine Ecke des Hauses, das sich schwarz im Dunkeln abzeichnete, bewegte. Ich prallte zur;ck und rannte in die entgegengesetzte Richtung. Ich rannte so schnell ich konnte, und hinter mir wurde ein gleichm;;iges Ger;usch immer lauter. Als ob eine Lawine von weichen, gleichm;;ig atmenden Wesen heranrollte.
Ich bog in eine andere Gasse ab, aber auch dort bewegte sich etwas und atmete in der Dunkelheit. Und pl;tzlich sah ich eine tausendk;pfige Horde Hasen, die direkt auf mich zu st;rmte. Ich sprang zur T;r eines Hauses, drang in den Hausflur ein, st;rzte in den ersten Stock und trommelte an jemandes T;r.  Der hei;e Atem kam aber immer n;her.
Schlie;lich frage jemand:
„Wer ist da?“
„Machen Sie auf! Machen Sie auf!“
Die T;r wurde leicht ge;ffnet, ich stie; den Bewohner beiseite, st;rzte ins Zimmer, wo matt eine Tischlampe brannte, und versteckte mich hinter der Gardine.
Die Lawine kam n;her. Ich sp;rte, dass sie mich im n;chsten Augenblick  verschlucken w;rde.
 
DAS M;DCHEN UND DER KATER

Ich mag au;ergew;hnliche Menschen. Es gibt  sie selten.
Jetzt ging jedenfalls so ein Mensch auf unserem Hof spazieren.
Ich stand am Fenster und beobachtete sie durch die Gardine aus dem ersten Stock. Das war ein junges M;dchen, das seinen Kater ausf;hrte.
Der graue Kater lief neben ihr an der Leine wie ein Hund. Er lief brav ;ber den Hof, schnupperte vorsichtig an den Gr;sern, als ob er sie zum ersten Mal in seinem Leben sah, und hob seine Pfoten voller Verachtung sehr hoch, weil er wohl Abscheu gegen den Regen hegte, der in der  Nacht  niedergegangen war.
Das junge M;dchen, besser gesagt die junge Frau sah nett aus, war sportlich gekleidet. Ein au;ergew;hnliches M;del – nicht jeder kommt auf die Idee, mit einem Kater spazieren zu gehen. K;nnte man nicht noch eine H;tte in den Hof stellen und den Kater an die Kette legen?
Ich begann Hypothesen ;ber ihre innere Welt aufzustellen. Sie geht mit ihrem Kater so um, als sei es kein Kater, sondern ein Hund.
L;sst sich daraus der Schluss ziehen, dass sie auch andere Dinge verwechselt, sich in Menschen irrt, vielleicht sogar vom Leben entt;uscht ist? Vielleicht aber ist sie auf Disziplin versessen und m;chte, dass die Menschen ihr auf jeden Wink gehorchen leisten wie dieser dickliche graue Kater?
Mein Interesse an der jungen Person lie; nicht nach. Ich beobachtete sie ziemlich oft vom Fenster aus. Ich bemerkte einen Ehering an ihrem Finger, sie ging aber immer allein aus dem Haus oder aber in Gesellschaft des Katers.
Einmal hielt ich es nicht l;nger aus und ging zu ihr in den Hof.
„Gestatten Sie, dass ich Sie frage, warum Sie ihren Kater an der Leine ausf;hren?“, fragte ich und trat n;her.
Das Gesicht des M;dchens erstrahlte, als h;tte es nur auf diese Frage gewartet.
„Dieser Kater...“, sagte sie. „Das ist ein au;ergew;hnlicher Kater. K;nnen Sie sich vorstellen, er kann mit seiner Pfote jede T;r ;ffnen, er macht T;pfe auf und den K;hlschrank, und dann macht er ihn selbst wieder zu. Wissen Sie, ich glaube, er hat eine fixe Idee.“
Naja. Was sie so redet...
„Was f;r eine denn?“, fragte ich.
„Abzuhauen. Einmal hat man ihn mir aus R;kvere* zur;ckgebracht. Es ist kaum zu glauben, dass er allein in den Vorortzug einsteigen konnte, aber es muss wohl so sein. In R;kvere wohnt eine Tante von mir. Einmal hatte ich ihn dorthin mitgenommen. Offensichtlich hat er sich den Weg gemerkt.
Sie sah mich nachdenklich an und sprach weiter:
“Ich mag au;ergew;hnliche Tiere und Dinge. Und Menschen... Es gibt sie so selten. Sie sind zum Beispiel ein au;ergew;hnlicher Mensch.“
„Ich?!“
„Ja.. Wenn ich auf den Hof gehe, sehe ich Sie  sehr oft am Fenster stehen und... mir scheint, Sie tr;umen von irgend etwas. Jetzt sind alle Menschen irgend wohin in Eile. Als ob sie nie von irgend etwas tr;umen... Ich bin fast ;berzeugt, dass auch Sie eine fixe Idee haben.“
Das ist ja ein M;del... Genau, sie hat’s erraten... Leider habe ich keine Tante in R;kvere.
„Alle Menschen tr;umen irgend wovon“, sagte ich. „Ich bin keine Ausnahme.“
„Ja, sie tr;umen! Alle Kater tr;umen auch von irgend etwas... Aber nicht so angestrengt wie mein Kater. Oder... wie Sie.“
Nach diesen Worten schwiegen wir lange und schauten auf den Kater, der langsam um ein B;schel Gras ging und irgendwie unlustig daran schnupperte. Die Leine glitt hinter ihm durchs Gras.
„Warum lassen Sie nicht zu, dass der Traum des Katers sich erf;llt?“, fragte ich schlie;lich.
Sie sah mich vorwurfsvoll an, als h;tte ich eine unglaubliche Dummheit von mir gegeben.
 „Weil mir mein Kater teuer ist.“
„Wenn er Ihnen wirklich teuer w;re, w;rden Sie nicht das tun, was Sie wollen, sondern was er will“ , erkl;rte ich.
„Wie kann ich denn tun, was er will? Er wei; doch selbst nicht, was er wirklich will.“
Sie ;berlegte ein bisschen und fuhr dann fort:
„Sie meinen sicher, dass ich mich wie eine Egoistin benehme. Das ist aber nicht so.  Ich tr;ume auch, aber ich verhalte mich nicht so, wie ich will, obwohl...“
Sie stockte pl;tzlich und err;tete.
Wir schwiegen wieder und schauten auf den Kater. Er hatte endlich genug davon, an den H;lmchen herumzuschnuppern, hob den Kopf, sah erst sie, dann mich fragend an.
„Tr;umen Sie denn ... angestrengt?“, unterbrach ich das Schweigen.
„Sehr“, sagte sie ernst und sah mir direkt in die Augen.
„Und machen trotzdem das, was irgendein anderer will?“
Sie erlangte ihr seelisches Gleichgewicht schon v;llig wieder. Sie l;chelte.
„Gew;hnlich stellt niemand solche Fragen. Sehen Sie, Sie sind ein au;ergew;hnlicher Mensch.
„Vielleicht wei; aber der, der Sie am G;ngelband f;hrt, selbst nicht, was er eigentlich will“, lie; ich nicht locker.
Zum erstenmal wusste dieses nette M;dchen nicht, was es sagen sollte. Sie sah mich unsicher an.

...Seit drei Jahren bin ich mit ihr verheiratet. Wir haben ein kleines Haus am Rande von Tallinn. Im Hof steht eine H;tte. Da wohnt unser Hund.
Der Kater wohnt bei der Tante in R;kvere. Sie f;hrt ihn an der Leine aus. Er ist ihr n;mlich schon ein paar mal ausgerissen und kam zu uns.
Konnte er wirklich allein in den Vorortzug steigen?  Wahrscheinlich...
 
LEERE PREISSCHILDER

In dieser Kleinstadt kann man durch zwei-drei- Gassen gehen, ehe einem jemand begegnet. Der Entgegenkommende senkt den Blick und geht eilig auf die andere Stra;enseite...

Ich habe oft die Arbeitsstelle und den Wohnort gewechselt.
Ich habe meiner ersten Frau, die ich wegen der zweiten verlassen hatte, Unterhalt gezahlt; die zweite verlie; mich. Mein Arbeitsbuch war bunt von Eintr;gen. ;berall k;ndigte ich auf eigenen Wunsch, doch in Wirklichkeit... An einer Stelle erf;llte ich die Arbeit nicht termingem;;, an einer anderen gelangten wegen mir falsche Daten in einen Bericht, an einer dritten sandte ich das Material an eine falsche Adresse. Ich kam st;ndig zu sp;t zur Arbeit...
Nach einer erneuten K;ndigung konnte ich lange keine neue Arbeitsstelle finden. Ich war mit einem sehr bescheidenen Gehalt zufrieden, Hauptsache, die Arbeit war nicht zu verantwortungsvoll und die Belastung nicht sehr gro;.
Meine Freunde wollten mich nicht weiterempfehlen. Also musste ich selbst zu den verschiedenen Institutionen gegen, doch ;berall hie; es, dass sie keine freien Stellen h;tten.
Schlie;lich wandte ich mich an das B;ro f;r Arbeitsvermittlung.
Der farblose Angestellte h;rte mich an, bl;tterte in meinem Arbeitsbuch und sagte mit farbloser Stimme:
„Ich glaube, Ihr Platz ist in...“
Er nannte eine Stadt, von der ich noch nie etwas geh;rt hatte.
„Und was ist das f;r eine Arbeit?“
„Die wird richtig f;r sie sein.“
Zu Hause suchte ich diese Stadt vergebens auf der Karte. Auch von meinen Bekannten hatte noch niemand davon geh;rt.
„Sicher eine ganz kleine Stadt“, sagten alle
Sie fand sich auch nicht in den Fahrpl;nen der Z;ge und Busse.
Ich wandte mich erneut an das B;ro. Derselbe Angestellte antwortete genauso teilnahmslos:
„Mit dem Zug kommen Sie da nicht hin. Wir bringen Sie mit dem Auto.“
Es war eine Kleinstadt. Graue einst;ckige H;uschen. Staubige Gassen, in denen man kaum mal jemanden trifft. Ich wurde in einem Wohnheim, in einem Einzelzimmer untergebracht.
Die Arbeit war einfach. – ich sollte den Buchstaben „y“ in einem gedruckten Text ;berall dort, wo er vorkam, unterstreichen.
Anfangs war ich verwundert. Doch dann begriff ich, dass die Beamtenseele genau das f;r mich ausgesucht hatte, worum ich gebeten hatte. Die Arbeit erforderte keine besonderen Anstrengungen – eine Norm, wie viel Buchstaben man pro Tag unterstreichen musste, gab es nicht. Gro;e Verantwortung hatte ich auch nicht. Wenn ich versehendlich ein „y“ ;bersah, so unterstrich mein Chef, der die Arbeit kontrollierte, es selbst.
Wir sa;en in einem kleinen Raum zu zweit. Mein Kollege, ein finsterer, hagerer alter Mann, unterstrich auch irgend etwas. Das „o“, wie sich herausstellte. Ich gebe zu, dass ich am Ende des zweiten Arbeitstages diese Besch;ftigung ziemlich satt hatte.
„Das ist ja ’ne Arbeit“, sagte ich zu dem Alten.
Er unterstrich weiter schweigend die Buchstaben.
„Lange bleibe ich hier nicht“, sprach ich weiter.
„Da irren Sie sich“, entgegnete der Alte, ohne mich eines Blickes zu w;rdigen.
„Solange man nichts Besseres hat, kann man auch hier sitzen, doch sobald ich etwas Anst;ndiges finde, k;ndige ich.“
Der Alte schwieg.
Abends ging ich spazieren. Wie ich bereits sagte, begegnete man hier selten Passanten. Sie waren alle in irgend welche nicht sehr heiteren Gedanken versunken und mieden Entgegenkommende, indem sie rechzeitig die Stra;enseite wechselten. Mich wunderte, dass es in der Stadt weder Jugendliche noch Kinder gab. Alle, denen ich begegnete, waren ;ber drei;ig so wie ich.
„Eine seltsame Stadt“, begann ich am n;chsten Tag das Gespr;ch.
Der Alter unterstrich weiter schweigend seine „o“s.
„Man hat den Eindruck, als ob sich alle f;r irgend etwas sch;men.“
Genauso gut h;tte ich mich mit dem Buchstaben  „o“ unterhalten k;nnen. Was f;r ein finsterer Typ, dachte ich und f;gte herausfordernd hinzu:
„Bei der ersten besten Gelegenheit suche ich mir eine neue Stelle.“
„Zu sp;t“, sagte der Alte mit emp;render Ruhe. „Sie werden hier bleiben m;ssen.“
„Wer kann mich denn hier festhalten?“, fragte ich aufgebracht.
„Sie selbst“, knurrte der Alte in seine Bl;tter.

Ich hatte den Wecker in der alten Wohnung vergessen und war schon ein paar mal zu sp;t zur Arbeit gekommen. Vom ersten Lohn wollte ich mir einen neuen kaufen.
Am Lohntag betrat ich einen kleinen Laden mit dem Aush;ngeschild „Uhren“.
Kunden waren keine da. Die Verk;uferin, eine ;ltere Frau, hatte die Ellenbogen auf den Verkaufstisch gest;tzt und sah teilnahmslos direkt vor sich hin. Hinter ihr waren Regale, auf denen Uhren verschiedener Formen und Gr;;en standen. Ich brauchte einen ganz gew;hnlichen billigen Wecker. Ich sah auf die Preisschilder: Seltsam - vor den Uhren standen kleine wei;schimmernde rechteckige Schildchen, doch ohne Preise.
Ich wandte mich an die Verk;uferin:
„Entschuldigen Sie, ich m;chte einen Wecker kaufen.“
Sie stand weiter da, gedankenversunken, schlie;lich gab sie sich einen Ruck:
„Was?“
„Ich m;chte einen Wecker kaufen.“
„Einen Wecker?“
„Ja.“
„Welchen haben Sie sich ausgesucht?“
„Ich w;rde gern den Preis wissen.“
„Den Preis? Den erfahren Sie sp;ter.“
Ich starrte sie an und dachte, sie scherzt.
„Wann sp;ter?“
Sie g;hnte, hielt sich die Hand vor den Mund.
„Wenn Sie ihn kaufen.“
Ich war endg;ltig verwirrt.
„Ein sonderbares Gesch;ft!“
„Warum?“
„In den anderen Gesch;ften erf;hrt man den Preis vor dem Kauf.“
„Hier“, sagte sie gleichg;ltig, „sind alle Gesch;fte so.“
Ohne etwas gekauft zu haben, trat ich hinaus auf die Stra;e und verwirrt ging ich auf das Nachbarhaus zu, an dem ich schon fr;her das Schild „Kopfbedeckungen“ bemerkt hatte. Ich hatte in dieser Stadt noch nichts gekauft. Essen konnten wir kostenlos in der Kantine. Ich ;ffnete die T;r und sah hinter dem Ladentisch eine ;ltere Frau, die sich langweilte. In den Regalen lagen Schirmm;tzen, Baskenm;tzen, H;te, und vor ihnen waren... wei;schimmernde leere Preisschilder.
„Sonderbar sind die Gesch;fte hier“, sagte ich am n;chsten Tag zu dem Alten.
Schweigen.
„Die Verk;uferin sagt, dass man erst die Uhr kaufen muss und dann kann man den Preis erfahren!“
„Nat;rlich“, brummte der Alte.
In dieser seltsamen Stadt sind auch die Menschen seltsam, dachte ich. Da kann man nichts machen. Da muss ich also einen Wecker kaufen, ganz egal, was er kostet...
Die besagte Verk;uferin langweilte sich hinter dem Ladentisch. Ich suchte einen Wecker aus. Dem Plastikgeh;use nach zu urteilen, musste es einer von den ganz billigen sein.
„Geben Sie mir bitte den Wecker... Dort den gelben.“
Tr;ge drehte sie sich um, nahm einen blauen Wecker vom Regal und streckte ihn mir hin.
„Ich   hatte um den gelben gebeten!“
Genauso langsam stellte sie den blauen zur;ck, reichte mir den gelben, holte unter dem Tisch ein Heft und einen Bleistift hervor und fragte:
„Wo arbeiten Sie?“
„Was interessiert Sie das?“
Die ungew;hnlichen Regeln dieser Stadt brachten mich auf die Palme.
„Wenn der Wecker mehr kostet, als Sie bezahlen k;nnen, wird man es Ihnen k;nftig vom Lohn abziehen.“
Ich stellte den Wecker auf den Ladentisch.
„Wollen Sie sagen, dass dieser Wecker mehr kostet als mein Monatslohn?“
Sie zuckte die Achseln.
„Das habe ich nicht gesagt, doch .. wer wei;.“
„Dann sagen Sie endlich den Preis!“
„Nehmen Sie ihn also?“
Ich musste klein beigeben.
„Na gut. Ich kaufe ihn.“
Sie schrieb auf, wo ich arbeite, und nannte den Preis, der meinem Lohn f;r ein halbes Jahr entsprach.
„Wie viel kostet denn dann diese gro;e Wanduhr?“, schrie ich auf. „Eine Million?“
„Der Preis h;ngt nicht von der Gr;;e ab“, erkl;rte sie.
„Wovon dann? Wovon h;ngt er ab?“
Die Verk;uferin dachte nicht daran zu antworten.
„In diesem Fall gebe ich den Einkauf zur;ck.“
Ich stellte den Wecker auf den Ladentisch und ging zur T;r.
„Zahlen m;ssen Sie trotzdem“, rief sie mir hinterher.
Am n;chsten Tag erz;hlte ich die ganze Geschichte dem Alten. Allerdings war schwer zu erkennen, ob er mir zuh;rte oder nicht. Er unterbrach seine Arbeit nicht.
„Ich muss mehr als sechs Monate Schulden abzahlen“, sagte ich zum Schluss.
„Hier zahlen alle Schulden ab“, sagte er schlie;lich. „Ich auch.“
„Warum kann man denn den Preis nicht gleich erfahren?“
Er seufzte schwer:
„Das geht nicht. Den Preis erfahren wir immer erst hinterher.“

So lebe ich nun in dieser Kleinstadt. Ich bezahle die Schulden, arbeite tags;ber, abends gehe ich spazieren. Wenn mir jemand entgegen kommt, senke ich den Blick und wechsle die Stra;enseite.
 
DER WAHRHEITSDETEKTOR

Ich habe als Berater in einem Patentb;ro f;r Erfindungen und Entdeckungen gearbeitet, und man hat mich dort f;r einen ganz guten Experten gehalten.
Eines abends, als ich von der Arbeit nach Hause ging, hielt mich ein Unbekannter an. Er bat mich, ihn anzuh;ren, da er etwas ganz Au;ergew;hnliches erfunden h;tte.
Ich riet ihm nat;rlich, das B;ro w;hrend der B;rozeiten aufzusuchen. Er flehte mich jedoch an, seine Erfindung privat anzusehen, weil sie offiziell wahrscheinlich kaum durchkommen w;rde.
Nebenbei gesagt, was f;r Leute so in unser B;ro kommen! Im Jahr bringen zwei-drei Besessene einen neuen Entwurf des Perpetuum mobile... Ich betrachte diesen hier: Die Augen wirken klar, ohne fanatischen Glanz. Ich frage ihn:
„Und warum haben Sie gerade mich ausgesucht?!
„Weil Ihre Werte ideal passen“, antwortet er l;chelnd. „Erkennen Sie mich nicht?“
Ich betrachte ihn genauer: Ich kennen diesen Menschen nicht. Doch als er einen Mikrotaschenrechner aus der Tasche zog, erinnerte ich mich.
Als ich vor drei Tagen von der Mittagspause in mein Arbeitszimmer zur;ckkomme, sehe ich auf dem Tisch einen Taschenrechner. Wo kommt der her? Ich drehe ihn hin und her und wundere mich,  dass die Zahlen in der Anzeige st;ndig wechseln. Pl;tzlich h;re ich hinter mir eine Stimme:
„Entschuldigen Sie, das ist meiner.“
Ich gab ihm den Taschenrechner zur;ck und sah ihn nicht wieder. Und nun bel;stigt er mich auf der Stra;e.
„Haben Sie etwa den Mikrotaschenrechner weiterentwickelt?“, fragte ich.
„Nein, das ist Tarnung. In sein Geh;use habe ich meine Erfindung eingebaut – den Wahrheitsdetektor.“
Wer schon mal in einem Patentb;ro gearbeitet hat, wei;: Die beste Methode, Misstrauen gegen;ber einer Erfindung zu wecken, besteht darin, ihr einen einfachen Namen zu geben. Wenn aber eine Bezeichnung aus wenig verst;ndlichen Termini wie zum Beispiel tensorchronometrischer Transformator und so weiter besteht, nimmt das B;ro die Erfindung ernst und erteilt nach einem Jahr das Patent. Wenn jedoch dem Erfinder in den Kopf kommt, seine Erfindung Zeitmaschine zu nennen, setzt man ihn ohne Unterhaltung vor die T;r. Also frage ich ihn auch:
„Was ist denn das f;r ein Detektor? Ein Wahrheitsdetektor? Etwa so etwas ;hnliches wie ein L;gendetektor?“
„Aus irgend einem Grund fragen mich das alle“, sagt er. „Dieses Ger;t macht es m;glich, den Charakter eines Menschen zu berechnen.“
„Zu berechnen“, wunderte ich mich. „Und wie?“
Er begann zu erkl;ren:
„Sehen Sie mal. In der Psychologie gibt es zum Beispiel die bekannten Rorschachtests – da muss die Testperson mindestens sechshundert Fragen beantworten. Aus den Antworten werden Schl;sse ;ber seine Charaktereigenschaften gezogen. Das ist jedoch eine sehr subjektive Bewertung. Der Wahrheitsdetektor berechnet jedoch die Information unmittelbar aus dem Gehirn des Menschen ;ber seine Handlungsweisen.  Und auf dieser Grundlager ermittelt er den Grad des Verstandes, der Schl;ue und des Altruismus. Es ist allgemein bekannt, dass jede Zelle unseres K;rpers mit dem Gehirn verbunden ist. Das Schema f;r den Empf;nger dieser Verbindung habe ich schnell entwickelt. Doch ganze zwanzig Jahre meines Lebens habe ich darauf verwendet, genau zu bestimmen, was Verstand, Schl;ue und Altruismus ist.
„Wer braucht so ein Ger;t ;berhaupt und wozu?“ fragte ich.
„Leiter von Personalabteilungen bei der Einstellung. Sch;ler bei der Wahl des Berufs. Heiratswillige.“
Und ich Idiot wollte ihm helfen... Doch zuerst wollte ich dieses Wunderger;t an mir selbst ausprobieren.
 Er holte seinen Taschenrechner aus der Tasche und sagte:
„Ehe ich es einschalte, sagen Sie mir, wie Sie sich selbst beurteilen. Und dann vergleichen wir es mit den Werten des Detektors.
Ich willigte ein. Ich kann nicht sagen, dass ich ein eingefleischter Egoist bin, das ist sicher. Sterne hole ich zwar nicht vom Himmel, doch ein Dummkopf bin ich wohl auch nicht. Und tricksen musste ich auch hin und wieder, das lie; sich nicht vermeiden... Folglich rechnete ich bei allen Skalen durchaus mit mittleren Werten. Das sagte ich ihm auch. Er dr;ckt mir sein Maschinchen in die Hand, die Werte sind einundf;nfzig, f;nfundneunzig und sieben.
„Nanu, was ist denn da so niedrig bei mir?“, wunderte ich mich.
„Einundf;nfzig ist der Wert f;r den Verstand, f;nfundneunzig – Altruismus, aber  mit der Schl;ue ist es nicht weit her.“
Ich war beleidigt.
„Verstand einundf;nfzig, mag sein, doch meinen Sie wirklich, dass ich so vertrauensselig bin?“
„Arglos, sagen wir mal...“, pr;zisierte er und begann, mich zu beruhigen.  „;rgern Sie sich nicht, die Selbsteinsch;tzung weicht immer von der Wahrheit ab, das ist den Psychologen gut bekannt. Daf;r haben Sie einen au;ergew;hnlich hohen Wert f;r Altruismus! Deshalb habe ich Sie ausgew;hlt!“
„Nein“, sage ich, „die  Skala f;r die Schl;ue ist noch nicht ausgefeilt.“ Und pl;tzlich f;llt mir ein, dass meine Verwandten oft zu mir gesagt hatten: „Warum bist du blo; so eine Einfallspinsel...“
 „Na gut“, sage ich. „Das ist eine interessante Sache. Man muss sie nur noch an jemandem ;berpr;fen.“
„Darum wollte ich Sie ja gerade bitten“, freute er sich. „;berpr;fen Sie es bitte an Menschen, die Sie gut kennen.“
Damit verabschiedeten wir uns und verabredeten uns f;r den n;chsten Tag.
Auf dem Weg nach Hause ;berlegte ich: „Wen kenne ich am besten? Meine Frau nat;rlich, Verwandte, Mitarbeiter...“ Ich ;berschlug, welche Werte meine Frau haben w;rde. Sie ist noch weniger schlau als ich. Verstand hat sie auch wenig. Altruismus daf;r im ;berma;. Sie erz;hlt mir andauernd, wem sie wie geholfen hat.
Zu Hause erz;hlte ich meiner Frau von dem Detektor.
„Ist das eine Art Horoskop?“, fragte sie.
Sie hat nichts verstanden! Mit M;he setzte ich ihr auseinander, dass das die absolute Wahrheit ist.
„Wenn es die absolute Wahrheit ist“, sie schaute finster drein, „muss man es also absolut ernst nehmen. Lass uns das morgen fr;h mit frischem Kopf ;berpr;fen.“
Morgens steht einem nicht der Sinn danach, wie Sie selbst wissen, da muss man schnell zur Arbeit. Also beschloss ich, den Detektor an meinen Kollegen zu ;berpr;fen, und ;berlegte zuerst, wer von ihnen der Kl;gste, wer der Schlaueste und wer der Uneigenn;tzigste ist.
Ich ging folgenderma;en vor: Ich lasse den Mikrotaschenrechner auf dem Tisch von irgendeinem Mitarbeiter liegen und sobald er ihn in die Hand nimmt, springe ich hinzu: „Entschuldigen Sie bitte, das ist meiner, ich habe ihn aus Zerstreutheit vergessen.“ Und betrachte die Skala. Auf diese Weise habe ich alle ;berpr;ft und bin zu dem Schluss gekommen, dass der Detektor frech l;gt.
Nach der Arbeit treffe ich mich wieder mit dem Erfinder.
„Haben Sie es ;berpr;ft?“ fragte er.
„Tja“, sage ich, „in unserem B;ro war der Kl;gste ein Dummkopf, der Einfachste ein Schlaumeier  und Altruisten gab es ;berhaupt keine. Sie k;nnen Ihren Detektor in den M;ll schmei;en.“
„Warum gleich wegschmei;en“, sagt er. „Sagen Sie mir lieber, welche Werte der Kl;gste hatte.“
Ich hole mein Notizbuch hervor:
„Bitte sehr: Verstand – achtunddrei;ig, Altruismus – neun, Schl;ue – einundneunzig.“
„Das ist nicht verwunderlich“, sagt er. „Dem Schlauen f;llt es nicht schwer, sich als Klugen auszugeben. Was hat Ihnen noch nicht gefallen?“
„So was – unser vertrauensseligster Mitarbeiter hat einen Wert f;r Schl;ue von neunundneunzig!
„Das ist nicht verwunderlich“, sagt er. „Was ist das denn f;r Schl;ue, wenn sie offensichtlich ist!“
Nein, denke ich, ich werde meine Frau nicht ;berpr;fen. Doch wie zum Trotz kam ich gerade da ins Zimmer, als sie diesen verdammten Rechner in der Hand hielt. Und was sehe ich: Altruismus – f;nf , Schl;ue – zweiundachtzig. Ich habe es nicht geglaubt. Ich habe aber angefangen, sie zu beobachten, sie zu ;berwachen. Und bin ihr dabei so auf die Spur gekommen...
Dem Erfinder habe ich trotzdem geholfen, seine Erfindung patentieren zu lassen. Ich hatte es ihm schlie;lich versprochen... Ich habe ihm geraten, den Wahrheitsdetektor umzubenennen in multicharakteristischen Dispositionsverifikator  psychomotorischer Funktionen. Ein Jahr sp;ter  erhielt er sein Patent. Zuf;llig erfuhr das meine Frau, jetzt schon meine ehemalige ... Aus Rache erz;hlte sie meinem Chef, was dieses Ger;t misst...  Der wollte nat;rlich seine Werte wissen. Als sich herausstellte, dass er nicht so sehr viel Verstand hat, erkl;rte er, dass das Patent f;r ein minderwertiges Ger;t erteilt worden sei, und ich musste k;ndigen...
Der Erfinder beruhigte mich: „Es macht nichts, dass du Frau und Arbeit verloren hast, daf;r hast du die Wahrheit erfahren! Au;erdem haben sich deine Werte f;r Verstand und Schl;ue verbessert.“
Er verga;, dass nach all  diesen Widerw;rtigkeiten mein Wert  f;r Altruismus um ganze 50 Punkte zur;ckgegangen  ist...

Vor kurzem traf ich den Erfinder. Begeistert berichtete er mir, dass er die Arbeit an einer neuen Erfindung – einem Ger;t zum Gedankenlesen – gerade abschlie;t. „Dann“, sagte er, „werden die Menschen die ganze Wahrheit ;bereinander erfahren...“
 
DER SCHMETTERLING

Das Bewusstsein kam nicht gleich wieder. Er erinnerte sich dunkel an den Flug, an das unerwartete Versagen der Ger;te und Motoren und h;rte eine Stimme:
„Der Gro;e Ring der Vernunft hat beschlossen, mit eurer Zivilisation in Kontakt zu treten. Die Wahl ist zuf;llig auf dich gefallen. Doch daf;r musst du einen Test bestehen. Jetzt wird dein Leben einer Analyse unterzogen. Davon h;ngt der m;gliche Kontakt ab.“
Und wieder das Gef;hl zu fliegen, das leichte ;belkeit hervorrief.
„Der Anweisung nach“, sagte die Stimme, „bist du verpflichtet, bei der Testprozedur anwesend zu sein. Wir f;hren sie extra in dir gewohnten Bildern durch.“
Die ;belkeit verging und vor ihm entstand ein heller Fleck. Durch ihn sah er wie durch ein Bullauge einen kleinen Raum. Am Tisch, auf dem eine Apothekerwaage mit einem ulkigen langen Zeiger stand, tauchte ein Mann auf. Er hielt ein langes dunkles Band in der Hand, dessen Ende in starren Windungen auf dem Boden ausgebreitet war. Der Mann nahm eine Schere und fing an, mit schnellen Bewegungen das Band in St;cke zu schneiden und auf die Waagschalen zu werfen. Manche St;cke drehte er hin und her und warf sie dann auf den Tisch.
Im Bewusstsein der Testperson entstanden Bilder des vergangenen Lebens. Er versuchte, manche von ihnen l;nger zu betrachten, doch sie zogen im Rhythmus der Handbewegungen des Mannes vor;ber.
„Die guten Taten nach links“, sagte die Stimme und beantwortete damit die stumme Frage, „ die schlechten nach rechts... Wenn die linke Waagschale schwerer ist, hast du den Test bestanden, wenn die rechte – wirst du immer das Gef;hl haben, ein Mensch zu sein, der  seiner Zivilisation ungewollt Schaden zugef;gt hat.“
Er war starr vor Spannung. Wenn sich die linke Waagschale hob, erstarrte er vor Angst, wenn sie sich senkte, entspannte er sich erleichtert. Das Band war zu Ende. Der Zeiger der Waage pendelte etwas und blieb auf der Ziffer 0 stehen.
„Gleichgewicht bedeutet, dass kein Kontakt m;glich ist“, sagte die leidenschaftslose Stimme. „Schauen wir mal, was die gr;ndlichere Analyse ergibt.“
Der Mann an der Waage w;hlte in dem Haufen Schnipsel. Einer weckte sein Interesse. Er betrachtete ihn genauer und legte ihn auf die linke Waagschale. Die senkte sich kaum merklich.
„Du sollst wissen, welche Tat dir geholfen hat, den Test zu bestehen.“
Wieder zogen Bilder vorbei, blieben stehen. Das bekannte matt beleuchtete Treppenhaus. Ein Mensch geht langsam die Treppe hinauf – er erkannte sich. Er bleibt stehen. Gegen das staubige Fenster flattert ein Schmetterling. Er dreht am Riegel, das Fenster geht auf.  Der Schmetterling fliegt auf in den Morgenhimmel.
...Er erwachte durch das Klingeln des Weckers und konnte lange nicht zu sich kommen. Das Herz klopfte schwer und ungleichm;;ig. „Was f;r ein seltsamer Traum“, dachte er. „Im Schlafzimmer ist es sehr stickig.“
Er stand auf und machte sich f;r den Dienst fertig. Eine Stunde sp;ter verlie; er die Wohnung. Als er zum Treppenabsatz in der zweiten Etage kam, sah er den Schmetterling auf dem staubigen Fensterbrett liegen. Er hatte ihn auch gestern Abend, als er vorbeiging, gesehen. Er bewegte kaum merklich die Fl;gel. Sein Blick ging gleichg;ltig ;ber ihn hinweg, ;ber das staubige Fensterbrett, auf dem fl;chtige Spuren von dem Schmetterling zu sehen waren. Er sah besorgt auf die Uhr und legte einen Schritt zu – er kam zu sp;t zur Arbeit.
Der Mann an der Waage sah bedauernd auf den langen Zeiger, der auf die Ziffer 0 zur;ckging. Das Bild vom Treppenhaus verschwamm. Es ert;nte der charakteristische Knall beim ;bergang in den Subraum. 
 
MONACO. MASKEN

F;nf junge Mur;nen hinter der Scheibe sahen mich gebannt an. Ihre schlangenartigen K;rper, die wie aus blassgr;nem Plastilin geformt waren, standen wie vor einem Angriff und bewegten sich kaum merklich im Wasser.
Ihr Verlangen war so gro; und unverhohlen und ihr Ausdruck dadurch so dumm, dass ich mich eine Weile vor ihrer Behausung, einem gro;en Aquarium, das in eine Wand des unterirdischen Aquatoriums eingebaut war, aufhielt, jetzt schon in der Absicht, sie in Versuchung zu bringen. Es ist doch angenehm, sich f;r so appetitlich und unerreichbar zu halten.
Zu guter Letzt holte ich den Fotoapparat hervor und knipste bei, wie ich dachte, ausgeschaltetem Blitzlicht. Es blitzte aber trotzdem, beleuchtete pl;tzlich ihre r;tselhafte Unterwasserwelt, und sie beugten sich blitzartig nach unten, stoben mit ihren halsartigen K;rpern in verschiedene Richtungen auseinander.
Das Nachbaraquarium hatte keine Bewohner, da war nur eine bemooste Steinh;hle in der einen Ecke und die Spur von einem Bewohner – ein bereits versteinertes St;ck Kot – in einer anderen.
Im n;chsten riesigen Aquarium schwammen Haie, die aussahen wie beleidigte alte M;tterchen mit fliehendem Kinn und zugepresster Unterlippe, nur ohne Kopftuch...
Ich ging an noch einigen Aquarien vorbei mit Neon- und Goldfischchen, mit kleinen Fischen, die aussahen wie die Papageien Ara, mit Fischlein, die wie bucklige Pferdchen aussahen, mit kleinen Fischen, die nicht wie Fische aussahen, und blieb zum Ausruhen vor einem leeren Aquarium mit sauberem Wasser stehen, dessen Grund von sehr kleinen Kieselsteinen ;bers;t war, die an bunten verschiedenfarbigen Buchweizen erinnerten.
Mein Blick erholte sich von dem Reichtum der Unterwasserfauna und glitt abwesend ;ber den auf dem Boden verstreuten „Buchweizen“. Pl;tzlich, ich hatte nicht einmal geblinkert, schwamm eine kleine Schicht dieser bunten Gr;tze hervor, hing f;r einen Augenblick etwa zehn Zentimeter ;ber dem Boden, schwamm dann flott los und drehte dabei scharfe Kurven. Das hatte ganz eindeutig die Umrisse eines Fisches – einer Flunder.
Auf dem R;ckweg ging ich an den mir bereits bekannten Aquarien vor;ber und erinnerte mich l;chelnd an die armen gequ;lten Mur;nen.
Pl;tzlich veranlasste  mich etwas stehen zu bleiben und ein paar Schritte zur;ck zu gehen.
Das war jenes finstere leere Aquarium mit der bemoosten H;hle.
Das Wasser in dem Aquarium war eindeutig kein flie;endes Wasser... Warum lag dann dieses, verzeihen Sie, St;ck Kot jetzt nicht mehr in der rechten, sondern in der linken Ecke  des Aquariums?
Da begriff ich. Nein, das ist doch... Na du hast ja hier einfach alle ;bertroffen, l;chelte ich dem Wesen zu, das sich als... Kot tarnt.
Ich fuhr mit dem Lift  aus den unterirdischen Gew;lben nach oben, verlie; das pr;chtige Geb;ude des Museums f;r Ozeanografie und ging zum Platz vor dem K;nigspalast des F;rstentums Monaco.
Die Sonnenscheibe hing schon in den Gipfeln der Meer-Alpen in der Ferne. An der dunklen M;nchsstatue stand wieder eine Gruppe Touristen, denen die Stadtf;hrerin, eine braungebrannte Frau in Shorts, die Worte heraussprudelnd, die Geschichte des K;nigreiches erz;hlte.
Diese Statue ist ein Denkmal f;r den Begr;nder des F;rstentums Monaco. Als M;nch verkleidet war er trotz der hohen Berge und der Festungsmauern hierher durchgedrungen und wurde der Vater, der Begr;nder des heutigen Steuerparadieses, des F;rstentums Monaco.
Die Sonne glitt hinter das Gebirgsmassiv. Sofort wurde es dunkler. In der Ferne am gegen;berliegenden Gebirgshang im pr;chtigen Kasino Monte Carlo, und weit unten auf den Yachten gingen die Lichter an. Das glatte Kopfsteinpflaster strahlte die warme Luft des Tages ab. Der Mond ging auf, er hatte sich die blasse Maske aufgesetzt, die ihm die Sonne geschenkt hatte. ;berall in diesem winzigen superreichen Staat,  der an den H;ngen der Berge klebt, funkelten Girlanden von Gl;hw;rmchen.
Im Kasino Monte Carlo wird das Spiel die ganze Nacht hindurch gehen, die Lichter werden brennen und so die Illusion eines ungehemmten, sorglosen Karnevals schaffen und damit fr;hlich die Verzweiflung des einen oder anderen hinter einer Maske verbergen.
 
SIMON UND DIE EICHEN

An diesem au;erordentlich hei;en Tag sonnte ich mich am Stromka*-Strand, und ab und zu warf ich einen Blick auf meine Nachbarin. Ihr wei;er breitkrempiger Hut hatte meine Aufmerksamkeit auf sich gezogen. Am Strand war er nicht ganz passend, sah aus wie eine Hochzeitstorte.
Die Dame lag auf einem gro;en Handtuch auf dem Bauch und las ein dickes Buch. Ein glatter st;mmiger K;rper, ein ausdrucksloses verlebtes Gesicht, ein platter Hintern, ein gew;hnlicher bunter Baumwollbikini. In dem beigefarbenen Sand neben ihr entdeckte ich eine weggeworfene Kippe.
Aber dieser Hut – gro;artig, luftig, doppelst;ckig, vielschichtig, mit einem pr;chtigen wei;en Band. Darunter vermutet man ein ganz anderes, viel glatteres Gesicht.
Nach einer Weile schlug sie das Buch zu, legte es beiseite und schlief ein, die Wange auf das Handtuch gepresst und von dem Hut zugedeckt.
Jetzt konnte ich den Titel des Buches, in Gold gepr;gt auf einem grellbunten Glanzeinband, lesen. „Simon und die Eichen“.
Zu meiner Verwunderung war das Buch in estnischer Sprache. Ich hatte aus irgend einem Grunde zuerst angenommen, meine Nachbarin sei Russin. Wahrscheinlich wegen ihres Hutes. Von Generation zu Generation hat sich im Unterbewusstsein das Bestreben der Untergebenen ;berliefert, die fr;heren Herrscher nachzuahmen. ;ber die Russen herrschten die Zaren, ;ber die Esten die deutschen Barone, die kleideten sich etwas einfacher.
Alles an ihr war widerspr;chlich – das Gesicht und der Hut, der Hut und das Buch.
„Simon und die Eichen“. Ich stellte mir ganz deutlich hohe alte Eichen vor, einen richtigen d;steren Wald, und darin steht auf der festgestampften schwarzen Erde ein im Vergleich zu ihnen winziger Simon und schaut, den Kopf im Nacken, in die Kronen der Eichen...
Ich schlief unter der sengenden Sonne auch ein. Als ich erwachte, war die Dame schon gegangen. So habe ich also nichts ;ber sie erfahren. Sie hat sich mir aber eingepr;gt und daran war bestimmt ihr Hut Schuld.
Einige Zeit sp;ter sah ich in einem Buchgesch;ft in Tallinn ein dickes Buch in grellbuntem Glanzeinband mit dem bewussten Titel „Simon und die Eichen“.
Ich wollte es schon kaufen, ;berlegte es mir aber anders. Pl;tzlich begriff ich, dass ich gar keine Antwort auf meine Fragen wollte. Diese Antworten sind oft so banal, so entt;uschend.
Lieber will ich manchmal dar;ber nachdenken, warum sie diesen ungew;hnlichen Hut gekauft hatte und wovon das Buch mit diesem r;tselhaften Titel handelt.
Die Wirklichkeit kann wohl kaum  meine Fantasien ;bertreffen.
 
 ANTIQUARITAT

Sicher haben Sie bemerkt, wie viele Antiquariate in der letzten Zeit in Tallinn er;ffnet wurden? In der Altstadt findet man sie jetzt auf Schritt und Tritt.
Ich m;chte aber von jenem kleinen Milchladen erz;hlen.
Ich wei; nicht, warum, aber er kommt mir immer mal in  den Sinn.
Er lag in einer stillen Gasse. Man geht dort hin und kommt von dort zur;ck und  trifft mitunter keine Menschenseele.
Er befand sich in einem Souterrainraum, das Fenster lag etwas unterhalb des Stra;enniveaus.
Der Raum war so winzig – nur der Ladentisch, auf dem eine gro;e Waage mit Waagschalen stand, und in der Ecke gegen;ber dem Ladentisch ein Stapel leerer K;sten aus dickem Draht, in denen sich vorher die Milchflaschen befunden hatten.
Milch hat schlie;lich keinen besonderen Geruch, doch man brauchte blo; die T;r zu ;ffnen, schon wehte einem ein irgendwie angenehmer Duft entgegen.
Die Milch wurde in Glasflaschen verkauft. Der breite Flaschenhals war von einem silbernen Deckelchen verschlossen.
Nat;rlich wurden in dem Laden auch andere Molkereierzeugnisse verkauft – saure Sahne, s;;e Sahne, Quark...
Warum erinnere ich mich an diesen kleinen Laden, warum taucht er manchmal in der Erinnerung auf wie ein wundervolles M;rchenbild? Vielleicht deshalb, weil Milch nicht mehr in solchen Flaschen verkauft wird?
Oder weil er ... eine Art besonderer Verk;rperung von Treue war. Denn dort wurden nur Molkereierzeugnisse  verkauft.
So einen Laden m;sste man aufmachen.
Und ein Schild aufh;ngen: „ANTIQUARIAT“.
 
MARIA

Es ist lange her. Der Abschlussball in der Schule. Es wurde bereits hell, die Musik war verklungen, wir sa;en aber immer noch im Halbdunkel des Saales und wollten nicht auseinandergehen. F;r mich selbst unerwartet erkl;rte ich, dass ich irgendwann nur ein M;dchen namens Maria heiraten w;rde.
„Maria?“, riefen alle durcheinander. „Warum?“
„Das ist ein Geheimnis.“
Maria... Als ob irgendwo in der Ferne die Gl;ckchen klingen.
Die Zeit verging. Meine Klassenkameraden brachten bereits ihre Kinder in den Kindergarten. Ich aber war immer noch nicht verheiratet. Nat;rlich nicht wegen dieses Kinderschwurs. Es gab nat;rlich auch in meinem Leben Begegnungen, aber Liebe war das nicht.
Unsere Klasse traf sich manchmal, und dann nahmen sie mich ins Verh;r, ob ich noch immer auf meine Maria warte. Mit ganz ernster Miene antwortete ich, dass ich meinen Schwur um keinen Preis brechen w;rde.
Ich lebte allein und ging oft in einem alten Park in der N;he meines Hauses spazieren. Unter einer alten Pappel stand eine alte Bank, auf die ich mich gew;hnlich setzte und die Eichh;rnchen f;tterte. Ich nahm N;sse f;r sie mit und brauchte nur ein bisschen mit der T;te zu rascheln, da tauchten sie auf, wie herbeigezaubert, und kamen heran. Manchmal waren es zwei, manchmal drei. Eines war sehr mutig, das kletterte am Hosenbein hinauf, setzte sich auf mein Knie und betrachtete mich mit einem feuchten Blick aus seinen schwarzen ;uglein.
Manchmal kam ein Bekannter vor;ber, blieb auf ein paar Worte stehen, und besonders meine Klassenkameradinnen seufzten nicht ohne Bedauern und Mitgef;hl: „Und du bist immer noch allein...“
Zuerst belustigte mich das, doch nach meinem drei;igsten Geburtstag stellte ich fest, das diese Bemerkungen mich nicht gleichg;ltig lie;en.
Eines sch;nen Tages, an einem dieser warmen Augustabende erblickte ich auf meiner Bank eine junge Frau. Sie trug ein graues Kleid mit wei;em Kragen. Dieses Kleid und auch der sch;chterne Blick, mit dem sie mich ansah, als ich mich neben sie setzte, hatten etwas R;hrendes.
Sofort tauchte mein mutigstes Eichh;rnchen auf. Als es am anderen Ende der Bank einen unbekannten Menschen sah, erstarrte es zuerst vor Schreck, bald sa; es jedoch auf meinem Knie. Meine Nachbarin l;chelte. Ihr L;cheln war auch r;hrend, irgendwie kindlich. W;ren da nicht die kaum merklichen F;ltchen in den Augenwinkeln gewesen, h;tte man sie f;r ein ganz junges M;dchen halten k;nnen
Ich hielt dem Eichh;rnchen ein Nuss hin. Anstatt sich mit der Beute davonzumachen, sprang der Schelm auf die Bank, erstarrte, den Schwanz  hoch aufgerichtet, und betrachtete meine Nachbarin. Die lachte los. Sie lachte so ansteckend, dass auch ich, der ich an die Schelmenst;cke des Wildfangs gew;hnt war, in das Lachen einfiel. Das Eichh;rnchen sauste wie vom Winde verweht von der Bank. Es sah uns von dem rauen Stamm einer Pappel aus von der Seite an und verbarg sich dahinter.
Das Lachen verband uns auf seltsame Weise. Mir gefiel, dass die Frau nicht gesagt hatte: „Ach, was f;r ein s;;es Tierchen“ oder etwas in der Art, was sicher jede andere gemeint h;tte sagen zu m;ssen, und zwar in einem ;bertrieben begeisterten Tonfall. Als sie aufgeh;rt hatte zu lachen, warf sie mir einen sch;chternen Blick zu, sagte aber keinen Ton.
Ich schlie;e nicht sehr leicht Freundschaft mit anderen Menschen, doch jetzt wollte ich ihr von allen m;glichen ulkigen Erlebnissen mit den Eichh;rnchen erz;hlen. Ich sprach mit immer gr;;erer Begeisterung, da sie zuh;ren konnte, sie h;rte zu wie ein Kind, dem man ein M;rchen erz;hlt. Wir merkten nicht, wie der Abend anbrach, wie es k;hl wurde. Sie erhob sich, sagte unsicher: „Ich muss gehen.“ Ich begleitete sie bis zum Haus. Beim Abschied fragte ich, wie sie hei;e.
„Maria“, antwortete sie.
So begannen die gl;cklichsten Tage meines Lebens. Wir durchstreiften unser ganzes St;dtchen, das im Gr;n versank, und es schien, als begleite uns st;ndig sanftes Glockengel;ut.
„Wo warst du blo; fr;her?“, fragte ich immer wieder. Sie lachte und erinnerte mich zum wiederholten Mal daran, dass sie in einer anderen gro;en Stadt wohne und hierher nur im Urlaub zu Verwandten zu Besuch gekommen sei.
Der August ging zu Ende. Ich machte ihr einen Heiratsantrag und wir beschlossen zu heiraten.
Bis zu ihrer Abreise waren es noch zwei Tage. Wir sa;en im Park auf derselben Bank, auf der wir uns kennen gelernt hatten.
„Wer findet sein Gl;ck?“, fragte ich. Und antwortete selbst: „Derjenige, der warten kann.“
„Du hast genau auf mich gewartet?“, fragte sie verlegen und gl;cklich.
„Ja. Und ich kann es dir beweisen.“
Ich erz;hlte ihr von meinem uralten Schwur.
Sie wurde pl;tzlich traurig und fragte:
„Du heiratest mich also nur wegen meines Namens?“
Ich machte ein sehr ernstes Gesicht:
„Ja.“
Am n;chsten Tag kam sie nicht zur verabredeten Zeit in den Park. Ich machte ihre Tante ausfindig, die mir mitteilte, dass Maria abgefahren sei und gebeten hatte, mir auszurichten, dass ich sie nicht suchen m;ge.
Ich konnte ;berhaupt nicht begreifen, warum sie mich verlassen hatte. Nat;rlich hatte ich einen nicht gelungenen Scherz gemacht, ich meinte doch aber keineswegs  nur ihren Namen, sondern all das, was der f;r mich bedeutete und was ich in ihr fand. Und mir schien, wie es Verliebten oft geht, dass sie mich bei der ersten Andeutung h;tte verstehen m;ssen...

Viele Jahre sp;ter auf dem traditionellen Klassentreffen, als wir schon ein bisschen angeheitert waren, nahm mich eine meiner Klassenkameradinnen zur Seite und sagte heftig:
„Ich begreife nicht, was du f;r ein Mensch bist. Wegen eines dummen Schwurs hast du dein und ihr Leben zerst;rt. Sie hat so gelitten...“
„Wer?“
„Meine Freundin. Ich wollte es dir fr;her nicht sagen. Sie hat hier Urlaub gemacht, hat das Abschlussfoto unserer Klasse bei mir gesehen und sich auf den ersten Blick in dich verliebt. Ich habe sie ;berredet in den Park zu gehen und sich Maria zu nennen... Was hast du? Glaub mir, ich wollte nur euer Bestes...
 
DER ZAUBERLIPPENSTIFT

Anne stand auf der geschlossenen Plattform des Eisenbahnwagens, sah aus dem Fenster, an dem die traurigen Herbstlandschaften vorbeizogen, und dachte daran, dass Erik  sie verlassen w;rde. Das war nur eine Frage der Zeit.
Pl;tzlich ber;hrte sie jemand am Ellenbogen. Sie zuckte zusammen und wandte sich um. Vor ihr stand eine nicht sehr gro;e ;ltere Zigeunerin und fixierte sie von unten bis oben.
„Komm, ich werde dir wahrsagen“, sagte die Zigeunerin.
Anne sah auf das bunte Tuch, auf den langen farbenpr;chtigen Rock und die schmale dunkle Hand, die sie am ;rmel hielt. Sie wollte schon den Kopf sch;tteln, sagte dann aber, unerwartet f;r sich selbst, traurig und h;flich:
„Bitte.“
Die Zigeunerin drehte sie mit dem Angesicht zu sich und hob gesch;ftig ihren Rock etwas an. F;r einen Augenblick blitzte ein zweiter bunter Rock hervor, aus dem sie einen kleinen runden Spiegel  zog und befahl:
„Schau in den Spiegel und denk an ihn.“
Anne schickte sich an, brav in den Spiegel zu schauen und an Erik zu denken.
Die Zigeunerin sprach sehr schnell und ihre Augen glitten immer noch ;ber Annes Gesicht hin und her.
„Es ist ein gro;er Schmerz in deinem Herzen, ein gro;er Kummer. Ein sch;ner Mann, ein kluger Mann, ein wichtiger Mann. Viele lieben ihn, er sieht viele an, du aber liebst ihn. Oh, was f;r ein Mann, er kennt seinen Preis, du aber kennst deinen Preis nicht. Ein gro;er Schmerz, ein gro;er Kummer, eine gro;e Trauer ist in deinem Herzen.“
Das wei; ich auch selbst, dachte Anne, die noch immer durch die Worte der Zigeunerin verwundert war.
Die Wahrsagerin lie; ihre Hand genau so schnell los, wie sie sie genommen hatte und sagte:
„Gib mir einen Rubel.“
Anne holte ihr Portemonnaie hervor und gab der Zigeunerin einen Rubel. Er verschwand sofort in den Falten der R;cke. Pl;tzlich ;berlegte Anne, dass die Wahrsagerin ihr eigentlich nichts vorausgesagt hatte.
„Also, was wird nun?“, brach es aus ihr hervor.
Die Zigeunerin warf ihr einen schnellen Blick zu und hielt ihr pl;tzlich ein winziges Dingelchen hin.
„Kauf das!“
„Was ist das?“
„Zum Lippenschminken“, sagte die Zigeunerin.
Es ging jemand vor;ber und schnell versteckte sie den Lippenstift hinterm R;cken.
Anne brauchte keinen Lippenstift, fragte aber trotzdem:
„Wie viel  kostet das?“
Die Zigeunerin hielt ihr wieder den Lippenstift hin. Die schwarzen Augen der Zigeunerin funkelten fr;hlich, aber aufmerksam.
„Drei;ig Rubel.“
„So teuer?“, wunderte sich Anne. Ein Lippenstift kostet nicht mehr als f;nf Rubel...
Unerwartet wurde die Zigeunerin b;se.
„Teuer?“
Sie steckte den Lippenstift weg und wendete sich ab, um zu gehen. Ver;chtlich verzog sie die Lippen und knurrte:
„Na h;r mal! Teuer! Soll er dich doch verlassen, was geht es mich an!“
„Warten Sie!“, rief Anne.
Die Zigeunerin dreht sich sofort um.
„Nimmst du ihn?“
„Aber warum ist er so teuer?“
„Das ist kein einfacher Lippenstift. Ein Zauberlippenstift. Er wird deinen Liebsten bei dir festhalten.. Kauf, du wirst es nicht bereuen!“
Anne ;berlegte fieberhaft, was das alles bedeutete und was sie, ein durchaus modernes M;dchen, davon halten sollte und ob sie ;berhaupt drei;ig Rubel hatte.
Sie entsann sich, dass sie genau drei;ig hatte, einer davon aber bereits in die verborgene Tasche der Zigeunerin gewandert war.
„Ich habe nur neunundzwanzig“, sagte sie missmutig.
„Gib her!“, befahl die Zigeunerin und dr;ckte ihr den Lippenstift in die Hand.
„Jedes Mal, wenn du zu deinem Liebsten gehst, schmink dir die Lippen“, f;gte sie eilig hinzu. „Pass auf, vers;um es nie. Wenn der Lippenstift zu Ende ist, geht auch die Liebe zu Ende, merk es dir! Aber bis dahin wird er bei dir sein, hab keine Angst.“
Die Zigeunerin ;ffnete hastig die Wagent;r und verschwand.
V;llig verwirrt drehte Anne den Lippenstift auf. Ein ganz normaler Lippenstift. Himbeerfarben. Anne zog einen leichten Strich auf der Hand – der Lippenstift hatte einen unangenehmen Hauch von Violet.
Pl;tzlich ging die T;r auf, die auf die Plattform zwischen den Wagen f;hrte, und ein Milizion;r tauchte auf. Als er das M;dchen erblickte, fragte er:
„Haben Sie nicht zuf;llig etwas bemerkt, ist hier nicht eine Zigeunerin durchgegangen?“
Anne wollte antworten „ja“, sch;ttelte aber aus irgend einem Grunde den Kopf.
Der Milizion;r winkte ab, brummte etwas in seinen Bart und ging weiter.

Zu Hause angekommen wollte Anne sofort Erik anrufen und fragen, warum er sie nicht vom Bahnhof abgeholt habe. Sie hatte ihm schlie;lich ein Telegramm geschickt, in dem die Wagennummer und die Ankunftszeit angegeben waren. Au;erdem wollte sie ihn fragen, ob er sie liebt.
Doch da fiel ihr der Lippenstift ein. Sie trat an den Spiegel. Lange betrachtete sie sich nachdenklich und fing an, sich die Lippen zu schminken. Die Lippen wurden himbeerfarben mit einem Hauch Violett. Das machte sie kaum sch;ner.
Ihre Laune war endg;ltig verdorben. Sie hatte Hunger, es war nicht einmal Brot im Haus, das letzte Geld hatte sie der Zigeunerin gegeben. Erik hatte sie nicht abgeholt und geruhte nicht einmal, sie anzurufen!
Sie br;hte Tee auf, sa; in der K;che und fing an, sich finster all der Kr;nkungen zu erinnern, die er ihr in dem Jahr ihrer Bekanntschaft zugef;gt hatte. Wie er ihr nicht zum Geburtstag gratuliert hatte, immer zum Rendezvous zu sp;t kam, nur von sich und seinen Erfolgen sprach. Wie die Frauen ihm auf der Stra;e nachschauen. Wie er aus heiterem Himmel erkl;rte, dass er Blondinen mag. Sie aber hatte dunkles Haar. Wie er sich mit ihrer besten Freundin verabredet hatte...
Fr;her hatte doch Anne so etwas niemandem erlaubt. Wenn irgendetwas nicht nach ihrem Geschmack war, drehte sie sich um und ging stolz erhobenen Hauptes davon, ;berlie; den verunsicherten Verehrer seinem Schicksal. Aber wegen Erik... wegen ihm sitzt sie jetzt hier auch allein, hat Hunger und bis zum Zahltag ist es noch eine ganze Woche.
„Schlie;lich!“, ;rgerte sie sich pl;tzlich ;ber sich selbst. “Wozu habe ich soviel Geld f;r diesen Lippenstift ausgegeben. Komme, was da wolle!“
Sie rief ihn auch nicht an.

Eine Woche sp;ter rief Erik sie selbst auf der Arbeit an.
„Gr;; dich!“, sagte er. „Wo bist du abgeblieben?“
Als sie seine Stimme h;rte, sp;rte sie ihr Herz klopfen. Sie wollte schreien: “Ich habe so auf dich gewartet!“ Doch sie unterdr;ckte diesen Wunsch und antwortete l;ssig:
„Viel zu tun.“
„Ach so.“
Erik ;berlegte einen Augenblick und f;gte dann hinzu:
„Um sechs, wie ;blich.“
 Wie immer legte er auf, ohne ihre Antwort abzuwarten.
Beinahe alle f;nf Minuten sah sie auf die Uhr und wartete auf das Ende des Arbeitstages. Sie hatten sich ganze zwei Wochen nicht gesehen! Sie hatte schon nicht mehr gehofft...
Doch ehe sie von der Arbeit wegging, fiel ihr pl;tzlich ein, dass der Lippenstift, den sie von der Zigeunerin gekauft hatte, zu Hause lag. Wenn sie zu Hause vorbeigeht, kommt sie zu sp;t und er ist weg. Doch wozu hat sie dann diesen Lippenstift ;berhaupt gekauft?
Sie kam zu sp;t. Erik wartete auf sie mit ver;rgertem Blick.
„Du kommst eine halbe Stunde zu sp;t“, sagte er finster.
„Verzeih“, sagte Anne.
Sie erinnerte ihn nicht an sein Zusp;tkommen.
Sie gingen in ein Restaurant zum Abendessen und bei Tisch bemerkte er pl;tzlich ihre geschminkten Lippen.
„Du schminkst die Lippen?“, fragte er.
„Ja.“
Er sa; zur;ckgelehnt im Sessel, rauchte seine Pfeife und betrachtete sie absch;tzend. Am Nachbartisch sa;en drei Frauen, die von Zeit zu Zeit in seine Richtung schauten.
„Wenn du sie noch mal schminkst, verlasse ich dich.“
„Gef;llt es dir nicht?“, fragte sie.
„Das habe ich schon gesagt.“
Nach dem Restaurant gingen sie in den Park. Der Himmel war sternen;bers;t und Erik erz;hlte, wie es ihm gelungen war, die Methode zur Berechnung der Entfernung zwischen den Sternen zu verbessern, wie er einen Vortrag auf einem internationalen Symposium in Belgien gehalten hatte und wie er schon in der Schule die landesweiten Physikolympiaden gewonnen hatte.
Dann fragte sie ihn, was er davon halte, die Zukunft aus den Sternen vorauszusagen. Er antwortete, dass das genauso ein Unsinn sei wie aus der Hand oder aus Karten zu lesen.
„Ruf an“, sagte er, als sie sich verabschiedeten.
Sie wollte ihn am n;chsten Morgen anrufen, doch sie erinnerte sich, dass er gew;hnlich sagte, dass er viel zu tun habe und dass sie am n;chsten Tage anrufen solle.
Gew;hnlich tat sie das auch in der Angst, dass, wenn sie nicht anruft, eine andere anruft. Doch jetzt... Sie wollte ihn sehr gern sehen... doch daf;r spart sie Lippenstift und, wenn man der Zigeunerin glauben soll, verl;ngert er ihre Liebe.
Erik rief sie selbst ein paar Tage sp;ter an und teilte mit, dass er Konzertkarten habe.
Er bemerkte sofort ihre himbeerfarbenen Lippen. Anne sah, wie er die Augenbrauen hochzog, aber er schwieg.
In der Pause erz;hlte er ihr, wie er, als er an der Universit;t studierte, einen Artikel geschrieben hatte, der in einer ;berregionalen Zeitschrift gedruckt wurde, und er erinnerte sich an seinen Unterricht an der Musikschule und die erfolgreichen Soloauftritte.
Der Lippenstift begann zu wirken! Er rief sie jetzt fast jeden Tag an und sie trafen sich oft. So oft, dass sie anfing sich Sorgen zu machen – der Lippenstift geht schnell zu Ende. Als er anrief und ohne eine Antwort abzuwarten sagte: „Heute um sechs!“,  antwortete sie deshalb:
„Erik, entschuldige, aber heute kann ich nicht. Ich muss l;nger arbeiten.“
Nach einer langen Pause legte er, ohne etwas gesagt zuhaben, auf.
Alles aus, dachte sie.
Doch sie beruhigte sich sofort: der Lippenstift ist erst zu einem Drittel aufgebraucht, und wenn man der Zigeunerin Glauben schenken soll...
Er rief sie ganze zwei Wochen nicht an, w;hrend der sie v;llig verging. Nur der Lippenstift half ihr durchzuhalten. Und endlich – rief er an!
Als ob nichts geschehen w;re lud er sie in eine Ausstellung ein.
Er bemerkte sofort ihre geschminkten Lippen, verlor aber kein Wort.
Sie gingen von Bild zu Bild, wobei er mit Sachkenntnis die Bilder kommentierte - in den meisten F;llen sagte er, dass Kommentare ;berfl;ssig seien. Pl;tzlich unterbrach er seinen Vortrag und fragte:
„Wie geht es deinen Verehrern?“
„Welchen Verehrern?“, wunderte sie sich.
Er antwortete nichts und nahm ebenso abrupt seinen Vortrag wieder auf.

Von dem Lippenstift war noch ein Drittel ;brig, als Erik ihr einen Heiratsantrag machte. Anne war verwirrt. Wenn sie ihn heiratet, muss sie jeden Tag die Lippen schminken und der Lippenstift geht zu Ende!
Ganz zuf;llig entdeckte sie in einer Parf;merie genau so einen himbeerfarbenen Lippenstift mit einem Hauch Violett. F;r einen Rubel f;nfzig.
Anne kaufte davon auf Vorrat und konnte jetzt  Erik mutig „ja“ antworten.
 
DAS KREUZWORTR;TSEL

Ich l;ste es leicht wie immer.  Mit Erstaunen stellte ich jedoch fest, dass ich nicht die geringste Vorstellung davon hatte,  was das Wort bedeutete, das sich aus den ersten Buchstaben der erratenen W;rter ergab.
Das gefiel mir nicht,  versetzte mich sogar in Schrecken. Das sieht aus wie die ersten Anzeichen der drohenden Alzheimer-Krankheit, die leider noch nicht besiegt ist.
„Ha“, h;tte meine Urgro;mutter, ein schreckliches L;stermaul, gesagt, „da fliegen sie zu Epsilon-Psi, die Krankheiten kurieren wir aber weiter mit Hausmitteln!“
Unter „Hausmitteln“ versteht sie das L;sen von Kreuzwortr;tseln, das die ;rzte zur Prophylaxe gegen diese schreckliche Krankheit empfehlen.
Ich stellte eine telepathische Verbindung zu meiner Mutter her und fragte sie, ob sie dieses Wort kenne.
„Keine Ahnung“, antwortete sie etwas ungehalten. „lenk mich nicht ab, ich arbeite. Frag lieber Gro;mutter.“
Ich telepathierte Oma an, die gerade mit einer Touristengruppe ;ber den Mars spazierte.
„St;r mich nicht, der Reiseleiter erz;hlt interessante Dinge“, telepatierte sie zur;ck. „Ich wei; nicht, wovon du sprichst, und ich bin auch nicht sicher, dass meine Mutter das wei;, aber versuch doch mal, vielleicht kann sie es dir sagen.“
Ich habe also die Krankheit nicht, freute ich mich. Das ist einfach ein Wort, das keiner kennt!
Schnell stellte ich eine Verbindung mit der Urgro;mutter her, die gerade von einer Kreuzfahrt durch die Metagalaxis zur;ckkehrte. Mit vierzig Jahren werden wir alle in Rente geschickt und dann bleibt einem nichts anderes ;brig als zu reisen.
Uroma trank einen Sauerstoffcocktail zur Verj;ngung und rekelte sich in einem Transformer-Sessel des Sternenfliegers. Einige Zeit brauchte ich, ehe ich ihr klar gemacht hatte, wer ich sei. Was nicht verwunderlich ist, wenn man bedenkt, dass sie nach meinen Berechnungen mindestens drei;ig Urenkelinnen hat.
Zuerst musste ich mir ihre h;hnischen Gedanken zu der Ohnmacht der Wissenschaftler gegen;ber der Alzheimer-Krankheit anh;ren. Diese Plage wird zur gr;;ten Gefahr der Zivilisation. Dann bat sie mich, in einer Stunde noch mal Kontakt mit ihr aufzunehmen, da sie gerade eine teure kosmetische Gesichtsmaske aus einem Stoff, der auf der Venus gewonnen wurde, aufgelegt hatte. Sie darf keine Falten ziehen, wenn sie ihr Ged;chtnis anstrengt.
Ich hatte kaum geschafft, von Uroma abzuschalten, als meine Tochter Verbindung zu mir aufnahm.  Was sie wollte, wei; ich nicht. Die Hilflosigkeit meiner Vorfahren bei diesem Kreuzwortr;tsel hat mich aus der Fassung gebracht.
St;r mich nicht, dachte ich finster und schaltete sie aus meinem Bewusstsein aus.
Wenn es schon die Uroma nicht wei;, dann wei; es nat;rlich auch die Ururoma nicht.
F;r alle F;lle nahm  ich aber trotzdem zu ihr Verbindung auf.
„Wer bist du?“, fragte sie
Wer bin ich, wer bin ich! Dein Fleisch und Blut in der vierten Generation, du h;ttest mich auch erkennen k;nnen..., dachte ich beleidigt und erschrak sofort, dass ich mit meinen Gedanken einen so alten Menschen beleidigt h;tte. Zumal ihre Tochter so ein L;stermaul ist (ich meine die Uroma. Wie mag ihre Maske aussehen?)
„Deine Ururenkelin, zu erkl;ren welche, w;rde zu lange dauern.“
Die Ururoma arbeitet noch, obwohl sie in Rente gegangen ist. Das ist noch die Generation, die ohne Arbeit eingeht, und sie dann zu reanimieren ist sehr schwer. Sie hat Arbeit als Pf;rtnerin im Museum f;r alte Computertechnik gefunden, aus dem in den vergangenen hundert Jahren nichts gestohlen wurde. Ausgenommen das Foto eines gewissen Gates, was sie allen sehr gern erz;hlt.
„Ich kenne das Wort, ich erinnere mich sogar wage an seinen Sinn, was es aber genau ist... Warte, ich rufe meine Mutter an.“
Sie ruft an! Wie schrecklich. R;ckst;ndige Leute. Doch ihre Mutter, meine Urururoma, hat panische Angst vor telepathischen Verbindungen, mit ihr kann man nicht anders. Sie ist meine letzte Hoffnung, denn ihre Mutter, meine Ururururoma, hatte das Ungl;ck, in einer Epoche geboren worden zu sein, in der die Menschen noch starben.
Nachdem meine Urururoma mit ihrer Mama telefoniert hatte, nahm sie fr;hlich die telepathische Verbindung zu mir auf.
„Sie hat mir alles erkl;rt! ‚Liebe’ – das ist ein bestimmtes Gef;hl. Sie sagt, ein wundersch;nes. Zwischen einem Mann und einer Frau zum Beispiel!“
„Warte mal. Und was ist ein ‚Mann’?“
„Na... Bill Gates zum Beispiel. Es gab so eine Sackgasse in der Entwicklung der Menschheit – die M;nner. Sie...“
Ich h;rte ihr aber schon nicht mehr zu.
Wer denkt sich blo; so idiotische Kreuzwortr;tsel aus?!
 
ALLEIN IM ALL

„Der amerikanische Wissenschaftler Vallee gab als erster die offensichtliche Tatsache zu, dass der Erforscher der unbekannten Flugobjekte (unidentified flying objects), abgek;rzt UFO, nicht die Erscheinungen selbst unmittelbar untersucht, sondern nur die Mitteilungen ;ber die Beobachtungen...“
In das offene Fenster des Vorlesungssaals flog eine kleine silberne Scheibe herein und blieb kurz vor dem Pult in der Luft h;ngen.
Der Referent verstummte in gespannter Erwartung und blickte aus den Augenwinkeln in den Saal. Die Zuh;rer zeigten kein Anzeichen von Verwunderung und erwarteten unbeeindruckt die Fortsetzung des Vortrags.
Der Referent richtete seinen Blick auf das UFO. Der Teller, der noch immer unweit des Pultes in der Luft hing, strahlte ein ged;mpftes silbriges Licht aus.
„Eine Halluzination“, musste der Referent, der vor Entsetzen erstarrte, zugeben. „Das wichtigste ist -  Ruhe bewahren“, befahl er sich selbst. Ich muss bis zum Ende des Vortrags durchhalten und niemand wird etwas merken.
Unter gro;er Anstrengung unterdr;ckte er das Zittern und erkl;rte:
„Jede einzelne Mitteilung ;ber die Beobachtung eines UFOs ist noch keine empirische Tatsache...“
Das UFO flackerte violett auf und surrte melodi;s.
Mit M;he ;berwand der Referent den Wunsch, Hals ;ber Kopf aus dem Saal davon zu st;rzen, und fuhr fort:
„Selbst Radarbeobachtungen ;ndern daran wenig, so eine Beobachtung h;lt nur einen vereinzelten Zustand oder ein vereinzeltes Auftreten eines Ph;nomens fest...“
Das Surren verstummte. Das Flackern h;rte auf. Der Referent blickte aus dem Augenwinkel auf das UFO und sah, dass es sanft auf dem Tisch an der Tafel niederging. Auf der geschlossenen Oberfl;che der Scheibe bildete sich eine runde ;ffnung, aus der nacheinander drei Menschlein in silberfarbenen Raumanz;gen, nicht gr;;er als ein Buch mittleren Formats, heraussprangen und federnd auf der zerschrammten Oberfl;che des Tisches landeten. Der Referent kniff die Augen zusammen. Als er sie wieder ge;ffnet hatte, sah er, dass die Erscheinung durch weitere Details bereichert worden war. Ein Menschlein hielt ein St;ck Papier in der Hand, streckte ihm die andere entgegen und gab leise T;ne von sich, die wie Gesang klangen.
„Ich werde verr;ckt“, stellte der Referent hoffnungslos fest, fuhr aber mutig fort:
„Der diametral entgegengesetzte Ansatz bei der Betrachtung der in zwanzig Jahren zusammengetragenen Informationen ;ber Beobachtungen von UFOs fand seinen Ausdruck in der Arbeit des ‚Colorado-Projektes’. Die wichtigste Schlussfolgerung dieser Kommission stimmt nicht optimistisch...“
Das Menschlein beendete seine Rede, alle drei kehrten in das UFO zur;ck, die Luke schloss sich. Das Objekt hob ab, sauste mit hoher Geschwindigkeit an dem Referenten vorbei, flog bis unter die Decke, dreht eine schwierige Kurve, tauchte unter dem Oberlicht hindurch und verschwand aus dem Blickfeld.
„Noch mal davongekommen“, atmete der Referent erleichtert auf, hielt seinen Vortrag zu Ende, entschuldigte sich, dass keine Zeit mehr sei, auf Fragen zu antworten, und verlie; eilig den Vorlesungssaal.

Auf dem Heimweg unterhielten sich zwei Ingenieure, die an dem Vortrag teilgenommen hatten.
„Die Gesellschaft ‚Wissen’ hat ihre Arbeit gut organisiert“, sagte der eine. „Sehr gute Anschauungsmittel. Wie hat Ihnen das UFO-Modell gefallen?“
„Nicht schlecht“, sagte der andere. „Auch die Humanoide sahen echt aus. Trotzdem ist es irgendwie traurig, dass wir allein im All sind.“
 
INTERVIEW DER ZEITSCHRIFT „DIE EMANZIPIERTE FRAU“
MIT IMMANUEL KANT

Unser Chefredakteur ist ein findiger Mensch. Eines sch;nen Tages schleppte er eine gro;e gl;nzende vernickelte Scheibe in der Redaktion an, legte sie in der Mitte des Zimmers auf den Boden und erkl;rte:
„Das ist eine Zeitmaschine.“
Wir waren nicht sonderlich erstaunt.
„Bisher kann man nur in die Vergangenheit reisen“, sagte er, „wenn es aber gelingt, das Zukunftsmodul zu bekommen, werden wir sogar das 22. Jahrhundert besuchen.“
Wir h;rten schweigend zu. Keiner zweifelte daran, dass er auch dieses Modul beschaffen w;rde.
„Gibt es Vorschl;ge?“, fragte der Chefredakteur.
Es gab keine. Alle sahen gebannt die Zeitmaschine an.
„Wer kann Deutsch?“
Unsere Blicke gingen zu Barbara hin. Sie err;tete, lie; die Zigarettenasche auf den Boden fallen, fing sich aber sofort wieder:
„Mihkel kann es auch!“
Der Chefredakteur sah sie vorwurfsvoll an:
„Du wei;t doch, Mihkel ist krankgeschrieben.“
Er wies auf die Scheibe und f;gte hinzu:
„Jede Minute Stillstand kommt uns teuer zu stehen.“
Wir starrten wieder die Maschine an. Sie erinnerte verbl;ffend an die Gesundheitsscheibe, f;r die in unserer Zeitschrift unter der Rubrik  „Schlank werden, schlank bleiben!“ Reklame gemacht wird. Wenn man auf dieser Scheibe steht und wie ein Skifahrer mit den Armen schwingt, beginnt sich der obere Teil der Scheibe zu drehen, und der Umfang der Taille nimmt ab. Pro Jahr um ganze drei Zentimeter.
„Am 22. April ist der 270. Geburtstag von Immanuel Kant“, sagte der Chef. „Barbara, du musst ihn besuchen und ein Interview mit ihm machen.“
„Was? Ich habe sogar Angst zu fliegen! Und wer ist eigentlich dieser Kant?“
„Du hast wohl das Hochschuldiplom ohne bestandene Philosophiepr;fung bekommen“, stichelte der Chefredakteur, zog ein d;nnes B;chlein aus der Tasche und begann vorzulesen:
„Bedienungsanleitung f;r die Zeitmaschine. Punkt eins. Interview aus der Vergangenheit: a) Daten ;ber die zu interviewende Person erfassen, die entsprechende Zeit und den Ort ausw;hlen. Es w;re w;nschenswert, wenn das Gespr;ch unter vier Augen stattfinden w;rde. b) Der Reporter muss Unterlagen bei sich f;hren, die den zu Interviewenden davon ;berzeugen k;nnen, dass ein Abgesandter aus der Zukunft zu ihm gekommen ist. Einem Maler kann man zum Beispiel die Reproduktion eines angedachten, aber noch nicht gemalten Gem;ldes zeigen, einem Schriftsteller den Roman, den er erst schreiben will usw. c) Bei der Abreise ist der Besuch aus der Erinnerung des zu Interviewenden zu l;schen...“
Der Chefredakteur hob die Augen und runzelte die Stirn:
„Kant kann man ein Exemplar seines Hauptwerkes ‚Kritik der reinen Vernunft’ schicken, das in unserer Zeit herausgegeben wurde. Folglich muss man Barbara in die Vergangenheit vor 1781 schicken, als das Buch noch nicht geschrieben war.“
Unser Chefredakteur ist nicht nur ein findiger Mensch, sondern auch sehr belesen. Wie es ihm gelingt, so verschiedene Dinge miteinander in Einklang zu bringen, ist mir ein R;tsel.
Warum aber hat er entschieden, Barbara auf einen Philosophen zu hetzen? Wenn Kant nun nach ihrem Besuch die „Kritik der reinen Vernunft“ nicht mehr schreibt?
Nach einer langen Diskussion, w;hrend der Barbara immer mal wieder „Gro;er Gott!“ und „Macht euch keine Hoffnung!“ ausrief und der Chefredakteur betonte, dass die Reisespesen in Devisen ausgezahlt werden, gelang es, sie zu ;berreden. Der Chef gab ihr zwei Tage frei, ordnete an, unseren ;blichen Fragebogen ins Deutsche zu ;bersetzen und ;berhaupt die Sprachkenntnisse aufzufrischen – er riet ihr, irgendein Kinderbuch in deutscher Sprache zu lesen.
Als die Versammlung zu Ende war, fragte ich den Chef, wie er sich auf so ein Abenteuer einlassen k;nne. Aber er l;chelte nur r;tselhaft.
Zwei Tage sp;ter trafen wir uns in seinem Arbeitszimmer. Um zu sehen, wie Barbara in die Vergangenheit geschickt w;rde. Der Chef gab ihr die letzten wertvollen Hinweise:
„Wenn du in K;nigsberg ankommst...“
„Gro;er Gott! Was denn f;r ein K;nigsberg?“
„Kaliningrad. Das hie; fr;her so.“
„Ach so! Riina war im Fr;hjahr in Paris und mich schickt ihr nach Kaliningrad!“
„Riina haben wir ausgezeichnet, aber du hast seit Herbst zwei Verweise wegen Versto;es gegen die Arbeitsdisziplin...“
Das war ein eindrucksvolles Schauspiel: Barbara, wie immer in Jeans, unterm Arm die in Berlin 1979 herausgegebene „Kritik der reinen Vernunft“, stellte sich auf die Scheibe, schwenkte die Arme als wollte sie ;bungen f;r die Taille machen, schluchzte „Lebt wohl!“ und entschwand.
Eine Weile sa;en wir in Grabesstille. Schlie;lich sagte Riina, die Redakteurin der  Kolumne „Wir reden ;ber Mode und ;bers Wetter“, das, was wir alle dachten:
„Und wenn sie nun nicht wiederkommt?“
Obwohl das schwerm;tig klang, h;rte ich in Riinas Stimme einen b;sen Unterton heraus. B;se Zungen behaupten, Barbara sei einmal damit herausgeplatzt, sie h;tte krumme Beine...
„Die Fragen hat ;brigens doch Mihkel ins Deutsche ;bersetzt“, sagte Heli, die Redakteurin  der Kolumne „Frau, sieh endlich in den Spiegel!“ mit einem sauren L;cheln. „Barbara ist zu ihm nach Hause gegangen. Zu guter Letzt wird sie den Philosophen mit Grippe anstecken...“
Ich stellte mir vor, wie unsere Barbara in Windeseile durch die Jahrhunderte zu Kant saust, und sie tat mir schrecklich leid...
Sie sollte in zwei Wochen wiederkommen.
Die ganze Zeit diskutierten wir, ob sie „zur;ckkommt“ oder „in K;nigsberg bleibt“, „na, dann fliegt der Chef auch“ und noch mehr in diesem Sinne.
Zur festgesetzten Zeit sa;en wir wieder im Arbeitszimmer des Chefs um die Zeitmaschine herum. Und da! Auf der Scheibe erschien Barbara, lebendig und unbeschadet, aber sehr finster.
„Na, wie war’s?“, riefen wir alle wie aus einem Munde.
B;se starrte sie den Chef an.
„In diesem K;nigsberg gibt es ;berhaupt nichts zu kaufen! Die sind da so hoffnungslos altmodisch! Ich habe alle Devisen wieder mitgebracht!“
Der Chef atmete erleichtert auf und fragte:
„Hast du Kant getroffen?“
„Nat;rlich!“
Barbara betrachtete unsere neugierigen Gesichter. Die allgemeine Aufmerksamkeit  verbesserte ihre Laune.  Ohne von der Scheibe zu steigen, z;ndete sie sich eine Zigarette an und begann zu erz;hlen.
„In dem Augenblick, als ich auf die Lindenallee herunterfiel, wo Imtschik spazieren ging, fing es an zu regnen. Er ist ein zerstreuter Mensch, hat mich nicht einmal gleich bemerkt. Hinter ihm ging der Diener mit dem Schirm und fing sofort an zu schreien: ’Herr Kant, Herr Kant! Wer ist das?’ Na, da hat mich Imtschik  endlich bemerkt – ich nenne ihn einfach Imtschik, ‚Immanuel’ l;sst sich ja nicht so einfach aussprechen. Ich sage zu ihm: ‚Guten Morgen!’ Und er steht da und sieht zu mir auf – ich bin einen Kopf gr;;er als er– und sagt keinen Ton, als ob er zum erstenmal in seinem Leben eine Frau sieht. Dann starrte er meine Jeans an. Ich sage zu ihm: ‚Ich bin zwanzig Jahrhundert!’ und halte ihm diese ‚Kritik der Vernunft’ hin. Na, das hat ihn zutiefst ersch;ttert. Er hat darin gebl;ttert und gebl;ttert, dann starrte er mich wieder an, ehrf;rchtig, muss ich sagen. Und fl;stert: ‚Mein Gott, Swedenborg hatte recht’. Ich fange an zu rauchen, biete auch ihm eine an: ‚Bitte eine Zigarette!’, aber er ist irgendwie r;ckst;ndig, er raucht nicht. ‚In Ordnung’ sage ich, ‚lassen Sie uns eine Interview machen’.  Ich wunderte mich selbst, dass das mit dem Deutschen bei mir so gut l;uft. Imtschik verstand mich sofort. Doch dieses Buch hat ihn hypnotisiert. Er vertiefte sich hinein und konnte sich nicht davon losrei;en. Da begann ein Platzregen, der Diener hielt den Schirm ;ber uns, auf der Allee war au;er uns keine Menschenseele... Ich wei; nicht, was Im da herausgelesen hat, dann sah er mich wieder an und fl;sterte: ‚Mein Gott’. Dann habe ich ihm unsere Fragen gestellt, manches musste ich auch mit den H;nden erkl;ren, aber hier ist es - das Interview!“
Siegessicher schwenkte Barbara einen Packen Papier und fuhr fort:
„Imtschik ist ein hoffnungslos r;ckst;ndiger Mensch. Ich frage ihn: ‚Sagen Sie mir bitte – Frau und nauka! Mir fiel zwar das deutsche Wort f;r ‚Wissenschaft’ ;berhaupt nicht ein, er hat mich aber verstanden, ein gescheiter Mensch, da kann man nichts sagen. Nur seine Anschauungen sind altmodisch. Schade, dass ich vergessen hatte, was auf deutsch ‚progress’ hei;t, sonst h;tte ich ihm erkl;rt, dass in unserer Zeit alles anders ist!“
Sie nahm einen tiefen Zug und seufzte:
„In diesem K;nigsberg gibt es wirklich nichts zu kaufen!“
„Barbara!“, riefen wir aus. „Was hat denn Kant auf die Frage nach der Frau in der Wissenschaft geantwortet?“
„Imtschik? Das ist ein gro;er Spa;vogel! Ich zu ihm: ‚Was halten Sie von Wissenschaftlerinnen, Herr Kant?’ Darauf hin er: ‚Sagen Sie bitte, wie sp;t ist es?’ Ich schaue auf die Uhr, hatte aber vor Aufregung wegen dieser Dienstreise vergessen, sie aufzuziehen. Ich sage zu ihm: ‚Entschuldigen Sie, ich wei; es nicht.’ Da l;chelt Imtschik listig und sagt: ‚Frauen nutzen B;cher etwa so wie ihre Uhr. Sie tragen die Uhr, um zu zeigen, dass sie eine haben, obwohl ihre Uhr meist steht oder die falsche Zeit anzeigt!’ Ich wollte ihm sagen, dass das jetzt ganz anders ist, konnte mich aber ;berhaupt nicht erinnern, wie das hei;t. Und er fuhr immer weiter fort... Ich habe ihn gebeten, das aufzuschreiben, das sei sicherer. Wie gut, dass du wieder gesund bist, Mihkel, ;bersetz mal bitte, ja? Na, das ist ja eine Handschrift!“
Ohne lange zu ;berlegen, streckte Barbara Mihkel die Bl;tter hin und der fing an zu ;bersetzen: „Gelehrtheit oder ;berm;;ig abstrakte ;berlegungen (selbst wenn die Frau darin Vollendung erlangen w;rde), machen die dem weiblichen Geschlecht eigenen Vorz;ge zunichte. Der Madame Dacier, die Homer ins Franz;sische ;bersetzt hat, und Sappho, deren Kopf voll von griechischer Weisheit ist, und der Marquise von Ch;telet, die ein wissenschaftliches Streitgespr;ch ;ber Mechanik f;hrt, und anderen Damen dieser Art fehlt nur ein Bart, der den Tiefsinn, den diese Frauen erreichen wollen, nur noch st;rker zum Ausdruck bringen w;rde...“
Unter unseren Mitarbeiterinnen war ein Murren zu h;ren und Barbara sagte:
„Ich konnte nicht an mich halten und habe gesagt: ‚So redet unser Chef auch, aber Sie irren sich beide!’“
Michel fuhr fort zu ;bersetzen: „Frauen sollten keine Geometrie studieren, ihre Reize w;rden nicht geringer, wenn sie nichts davon w;ssten, was Algarotti ihnen ;ber die Anziehungskr;fte der Materie nach der Lehre Newtons vermitteln m;chte... Algarotti war der italienische Wissenschaftler, der ‚Newtons Welt-Wissenschaft f;r das Frauenzimmer’ geschrieben hat.“
„Hier habe ich ihm gesagt“, mischte sich Barbara ein, „dass ich mit ihm v;llig einer Meinung bin!. Wozu brauchen wir diese Geometrie!“
Michel fuhr fort: „Auf dem Gebiet der Geschichte brauchen die Frauen ihre wunderbaren K;pfe nicht mit Schlachten zu belasten und in der Geografie nicht mit Festungen. Ein koketter Blick bringt den Mann in mehr Verwirrung als die komplizierteste scholastische Frage.“
Barbara setzte sich neben mich und fl;sterte mir ins Ohr: „Ich habe ja immer gesagt, dass unser Chef kein Kerl ist! Wie oft ich ihm diese koketten Blicke zugeworfen habe! Nach Paris ist aber trotzdem Riina gefahren!“
Michel ;bersetzte weiter: „Es w;re nicht schlecht, wenn es gel;nge, den Anblick einer Landkarte f;r eine Frau angenehm zu gestalten. Das l;sst sich folgenderma;en erreichen: Man zeigt ihr die Karte und beschreibt den Charakter, den Geschmack und die Moral der V;lker, die in den verschiedenen L;ndern wohnen, und erz;hlt, wie sich das auf die Beziehung der Geschlechter auswirkt. Ebenso braucht die Frau ;ber das Universum nicht mehr zu wissen als n;tig ist, damit der Anblick des Abendhimmels sie in Aufregung versetzt. Ich habe keinen Grund zu der Annahme, dass das sch;ne Geschlecht sich von Prinzipien leiten l;sst. Seien Sie nicht gekr;nkt,  auch M;nner haben selten Prinzipien. Das Prinzip der Frau lautet: was die Gesellschaft sagt, ist richtig, und was sie tut, ist gut. Die Frau von Milton versuchte ihren Mann zu ;berreden, den Posten eines lateinischen Sekret;rs anzunehmen, den man ihm nach dem Tode Cromwells angeboten hatte. Das widersprach den Prinzipien Miltons, da es bedeutet h;tte, die Regierung f;r rechtm;;ig anzuerkennen, die er fr;her selbst f;r unrechtm;;ig erkl;rt hatte. Milton aber sagte: ‚Ach, meine Liebe, du willst wie auch andere Frauen in der Kutsche fahren, ich aber muss ein ehrlicher Mann beleiben’.“
Alle sahen aus irgendeinem Grunde den Chef an.
„Fahren Sie fort, fahren Sie fort“, sagte er.
„Ja, das weibliche Geschlecht hat Schw;chen. Dummk;pfe machen sich dar;ber lustig, kluge Menschen aber sehen, dass gerade sie der Hebel sind, mit dessen Hilfe man den Mann steuern und f;r die Erreichung der eigenen Ziele nutzen kann.“
„Na?“, fragte Barbara.
„Ja, du hast es bew;ltigt... Wenn man es ein wenig k;rzt, kann man es drucken“, antwortete der Chef aus irgendeinem Grunde unzufrieden.
Dann gingen alle in den Flur um zu rauchen, Michel und ich aber blieben zu zweit im Zimmer.
„Was meinst du“, fragte Michel, „warum musste der Chef das Risiko eingehen und Barbara in die Vergangenheit schicken? Das h;tte man doch auch alles in den Werken Kants finden k;nnen...
 
Ich zuckte die Achseln:
„Selbst unser Chef ist mitunter zum Risiko f;hig. Aber wie du siehst, ist es ihm doch nicht gelungen, sie loszuwerden.“
 
DER  KOMPLIMENTEGENERATOR

Kauf nicht jeden Mist, h;re ich immer wieder. Aber ich konnte mich wieder nicht beherrschen.
Er sah mich mit seinen unschuldigen runden ;uglein an und war selbst auch kugelrund wie ein kleiner Brotlaib. Von Zeit zu Zeit begann er, mit den Augen zu blinkern, als ob auf ihm geschrieben stand: „Kauf mich, sonst sterbe ich“.
„Was ist das?“, fragte ich die Verk;uferin.
„Ein Komplimentegenerator“, antwortete sie mit einem unerwartet z;rtlichen Ton und streichelte ihn wie man eine Lieblingskatze streichelt, nicht aber ein seelenloses elektronisches Spielzeug.
„Und was macht der?“
„Dr;cken Sie auf den Knopf, schalten Sie ihn an, dann wird er ihnen alles selbst erz;hlen“, sagte die Verk;uferin und sah ihn dabei z;rtlich an.
Und ich dr;ckte auf den Knopf. Und war verloren.
„Wie hei;en Sie?“, fragte der Kugelige mit angenehmer Stimme und verzog sein rundes M;ndchen zu einem L;cheln.
„Ilona.“
„Sie haben einen hinrei;enden Namen, Ilona.“
Ich konnte nicht einmal dar;ber nachdenken, warum mein Name hinrei;end sei, als er schon fortfuhr:
„Was f;r ein Gl;ck, dass Sie hier sind, Ilona!“
Interessant, wodurch habe ich ihn so gl;cklich gemacht?
„Sie werden von allen geliebt und gesch;tzt, Ilona!“
Gesch;tzt... Was faselst du da, Kugeliger... Geliebt... von allen? Schwindel nicht – alle lieben niemals dasselbe.
„Niemand kann sich je mit Ihnen messen, Ilona!“
Er macht mich schwach...
„Ilona, Sie sind unglaublich sexy!“
Unglaublich? Hm. Und was ist daran gut?!
„Ilona, Sie sind klug und verdammt bezaubernd!“
Klug? Woher willst du denn das wissen? Du hast doch meinen IQ nicht getestet...
„Ilona, die Sonne verblasst neben Ihnen!“
Also wirklich, Schmeichelei muss sich in Grenzen halten, damit man ihr glaubt.
„Sie sind ein au;ergew;hnlich interessanter Mensch, Ilona!“
Du hast mich ja noch nicht zu Worte kommen lassen!
„Sie haben nur das Allerbeste verdient, Ilona!“
Wo ist es denn, das Allerbeste, wenn ich es verdient habe?
„Ilona, Ihre Energie vermag Berge zu versetzen!“
Nicht doch... ich bin andauernd schl;frig, besonders im Winter.
„Ilona, Sie werden alles erreichen, wovon Sie getr;umt haben! Ilona, glauben Sie mir, das Leben ist wundervoll! Ilona, m;ge jeder neue Tag f;r Sie besser sein als der vorangegangene!“
Was soll’s... Danke.
„Ilona, Sie werden ;berw;ltigenden Erfolg haben!“
Interessant, wobei?
„Ilona, Sie sind mein Idol!“
„Oh, Ilona, ich bete Sie an!“
„Ilona, Sie sind die Beste! Sie sind die Beste, Sie sind die Beste...“, wiederholte der Kugelige immer wieder und war nicht zu faul, es f;nfzigmal zu wiederholen.
L;g nicht, dachte ich finster und wartete darauf, wann er endlich verstummen w;rde. Gestern habe ich den ganzen Tag gefaulenzt. Ich bin das Letzte. Ich bin eine Null. Ich bin ein Niemand.
„Er hat zwei Betriebsarten“, sagte die Verk;uferin. „Man kann von ‚Sie’ auf ‚Du’ umschalten.“
„Was kostet er?“, fragte ich.
Der gr;ssliche L;gner kostete mehr als gutes franz;sisches Parf;m, das sich jede vern;nftige Frau f;r dieses Geld gekauft h;tte. Um wirklich irgendwie unwiderstehlich zu werden.
Ich aber kaufte diesen L;genbold.
Als ich nach Hause kam, kochte ich das Mittagessen, den Kugeligen stellte ich neben mich und schalte ihn wieder ein, in der Betriebsart „Du“.
„Wie hei;t du?“, fragte er.
„H;ttest du dir auch merken k;nnen“, sagte ich. „Zumal ich die Beste bin.“
„Du hast einen hinrei;enden Namen, ‚H;ttest-du-dir-auch-merken-k;nnen’, sagte er.
Macht er sich also auch noch lustig?
Er aber wiederholte:
„Was f;r ein Gl;ck, dass du hier bist, ‚H;ttest-du-dir-auch-merken-k;nnen’!... Du bist unglaublich sexy, ‚H;ttest-du-dir-auch-merken-k;nnen’!... Du bist die Beste, ‚H;ttest-du-dir-auch-merken-k;nnen’!“
Die letzten Worte wiederholte er f;nfzigmal.
„Es reicht“, sagte ich, „deine Batterie ist sowieso gleich alle.“
Nein, was f;r ein schwachsinniger Satz „Du bist die Beste“? Was bedeutet er eigentlich? Worin? F;r wen?
Nat;rlich wollte ich die Beste sein ... f;r einen Menschen.
Na gut, dann bin ich eben die Beste f;r diesen Kugeligen.
Ehe ich jetzt morgens Kaffee trank, schaltete ich den Kugeligen ein, antwortete auf die bl;de Frage, wie ich hei;e, „Ilona“, schloss die Augen und h;rte ihm zu.
Bald merkte ich, dass er ein z;rtliches Gef;hl in mir weckte. Ich konnte schon nicht mehr an ihm vor;bergehen, ohne ihm ;ber seinen runden R;cken zu streichen. Wenn ich von der Arbeit nach Hause kam, schaltete ich ihn sofort ein. Wenn ich traurig war, schaltete ich ihn auch ein...
Eines Tages kam meine beste Freundin bei mir vorbei.
„Oh, was ist denn das?“, rief sie aus, als sie den Kugeligen gesehen und auf den Knopf gedr;ckt hatte, und er, nachdem er sie gefragt hatte, wie sie hei;e, mitteilte, dass sie einen hinrei;enden Namen habe, dass sie klug sei, dass sie unglaublich sexy sei... Dass  -  sie die Beste sei.
„Wie reizend!“, rief sie aus. „Verkauf ihn mir!“
Abscheulicher treuloser Verr;ter! Dich aus dem Fenster zu werfen w;re noch zu wenig...
„Er ist unverk;uflich“, sagte ich. „Und du... du h;ttest, ehe du bei anderen Leuten ein elektronisches Ger;t einschaltest, auch um Erlaubnis bitten k;nnen.“
„So ist das?“, sagte sie beleidigt. „Auch, um den Fernsehapparat einzuschalten?“
„Ich mag keine r;cksichtslosen Leute“, sagte ich b;se.
Ehrlich gesagt, ich wei; nicht, was in mich gefahren war. Aber ich habe sie nicht aufgehalten, als sie vom Sofa aufsprang und gehen wollte.
Sie ruft mich nicht mehr an.
Ich sie auch nicht.
Nein, ich habe ihn nicht weggeworfen. Ich schalte ihn an und h;re ihm zu.
Abscheulicher L;gner, denke ich.
Voller Z;rtlichkeit.
 
ICH WARTE AB

Auf der Stra;e finden schon seit zwei Wochen erbitterte K;mpfe statt.
Unmittelbar unter meinen Fenstern wurde eine Barrikade errichtet, der sich die k;mpfenden Parteien, Fahnen und Transparente mit Losungen schwenkend, n;hern und einander mit Werbep;ckchen bewerfen, die den Gegner verf;hren sollen, und   mit Zitatenb;chlein ihrer Lehrer, um ihn zu demoralisieren.
Vom Bett aufzustehen f;llt mir wahnsinnig schwer, doch das Gejohle und Geschreie zwingt mich aufzustehen, mich zum Fenster zu schleppen, um zu sehen, was dort vorgeht.
Nachts z;ndet eine der Seiten Feuer an, und bis zu mir dringen die wunderbaren D;fte von dem am Spie; bratenden Hammel.
 Regelm;;ig tauchen ;ber dem Lager der einen gegnerischen Seite Hubschrauber der anderen Seite auf und werfen ;ber den K;mpfenden korbweise Flugbl;tter ab,  die sich in der Luft drehen und dann als wei;e Bl;tter die Erde bedecken. Nachdem sie sie durchgelesen haben, richten die Seiten ihre Blicke nach oben und versuchen vergeblich mit einem Werbepaket einen Hubschrauber zu treffen.
Ich gehe schon lange nicht mehr aus dem Haus – mir f;llt das Laufen schwer. Das Essen bringt mir meine Schwester. Dieses kostenlose Schauspiel ist f;r mich einfach ein Geschenk des Himmels, ich bin aber auch sehr am Ausgang des Kampfes interessiert und nehme ihn mir schrecklich zu Herzen.
Die k;mpfenden Seiten stehen auf diametral entgegengesetzten Standpunkten.
Die Verfechter der herk;mmlichen Di;ten bewerfen den Gegner mit P;ckchen von fettarmem Kefir, Buttermilch, 0 Quark, mit ;pfeln, M;hren, gekochten Eier und Kohlk;pfen.
Ihre Losungen hei;en: „Tod dem Fett! Es leben Obst und Gem;se!“
Die Anh;nger der revolution;ren Atkins-Di;t, die Atkinsianer, schwenken Transparente „Es lebe die Fettlebe!“ und bewerfen die reaktion;ren Traditionalisten mit riesigen St;cken von gebratenem Hammel, durchsichtigen Plastikgef;;en mit Schlagsahne, mit Butterst;cken und ;lflaschen, mit St;cken von Speck und Rippchen.
Ihre Gegner schreien ins Megafon: „Abnehmer und Abnehmerinnen! Glaubt diesen Atkinsianern kein Wort!“
Mit stockendem Herzen verfolge ich den Gang der Ereignisse. Wenn die Atkinsianer gewinnen, darf ich morgens keinen Kaffee mehr trinken und meine Lieblingstorte nicht mehr essen. Kohlenhydrate sind nicht erlaubt. Daf;r werde ich Rippchen und gebratene Eier in unbegrenzter Zahl essen und – trotzdem – abnehmen. Sagen sie jedenfalls.
Und wenn die Traditionalisten die Sieger sind? Werde ich es bei Kohl und M;hren durchhalten?
Mein Gewicht n;hert sich bereits zweihundert Kilo, doch solange die Wahrheit nicht eindeutig ist, fange ich keine Di;t an.
Ich warte ab.
 
DIE GL;SERNE WAND

Irgendetwas beengte mich, nahm mir die Luft, ich versuchte zu schreien und erwachte.
Im Zimmer war es noch halbdunkel in der Morgend;mmerung. Es war sehr stickig.
Meine Frau schlief auf der anderen Seite des Bettes und hatte mir den R;cken zugewandt. Als mein Blick  auf den Wecker auf ihrem Nachttisch fiel, kam mir etwas sehr seltsam vor. Es sah so aus, als sei das Zifferblatt der Uhr nicht rund, sondern gekr;mmt. Unwillk;rlich streckte ich die Hand in Richtung meiner Frau aus, wollte sie wecken, stie; mich jedoch schmerzhaft an einem unsichtbaren Hindernis. Ich sprang auf und begann es zu bef;hlen. Eine Wand! Sie teilte das Zimmer  l;ngs des Bettes bis zur Decke in zwei Teile. Das Fenster und die T;r des Schlafzimmers waren auf der anderen Seite.
„Schl;fst du?“, fragte ich laut.
Sie r;hrte sich nicht, und ich begriff mit Entsetzen, dass ich durch die Wand nicht zu h;ren war.
Ich wei; nicht, wie viel Zeit verging...
Endlich wachte sie auf. Sie richtete sich auf, streckte die Hand aus und dr;ckte den Knopf des Weckers. Hinter der Wand hatte der Wecker unh;rbar geklingelt.
Sie stand auf, trat ans Fenster. Sie zog den Store zur Seite, machte das Fenster weit auf, reckte sich, genoss die frische Luft. Und ich sp;rte noch st;rker, wie stickig es in meinem Teil des Zimmers war.
Schlie;lich ging sie vom Fenster weg. Ich stand auf dem Bett, fing an mit den Armen zu rudern und mit der Faust gegen die Wand zu h;mmern. Sie ging jedoch aus dem Zimmer, ohne auch nur einen Blick in meine Richtung zu werfen.
Ich stand weiter so da, versuchte mir vorzustellen, was sie jetzt machte. Zuerst trinkt sie Kaffee oder kommt sie, um sich umzuziehen? Ich wusste es nicht. Ich gehe sp;ter als sie zur Arbeit, und wenn ich aufstehe, ist sie schon weg.
Bald stand sie wieder in der T;r. Ich begann wieder, mit den Armen zu rudern und zu rufen, obwohl ich wusste, dass sie mich nicht h;rte. Sie ging zum Kleiderschrank und zog sich an. Dann setzte sie sich vor den schmalen Wandspiegel. Sie sa; mit dem R;cken zu mir, und pl;tzlich sah ich ihr Gesicht im Spiegel. Ich zuckte zusammen – das war ein ganz fremdes Gesicht. Es schien, als l;chelte sie, doch pl;tzlich verzerrte sich das Gesicht, der untere Teil verzog sich heftig, als w;rde es in einem Zerrspiegel wiedergegeben ... ich begriff, dass die Wand es so verzerrte.
Meine Frau sah auf die Uhr und verlie;, ohne in meine Richtung zu schauen, das Zimmer.
Habe ich genug Luft bis zu ihrer R;ckkehr? Ich blickte mich um. Au;er dem Nachttisch war hier nichts. Ich hob den Nachttisch an und schleuderte ihn voller Wucht gegen die Wand. Das T;rchen krachte und hing nur noch am Scharnier, an der Wand aber war nicht einmal ein Kratzer.
Pl;tzlich sah ich auf dem Kopfkissen einen Fetzen Papier, auf dem etwas geschrieben stand. Woher kam der? Ich griff danach und las: „Die Wand verschwindet, wenn...“ und atmete erleichtert auf. Jetzt wusste ich, wie man die Wand loswerden konnte. Ich muss nur auf die R;ckkehr meiner Frau warten.
Ich legte mich aufs Bett, schloss die Augen. Die Zeit verging langsam. In meinem Bewusstsein tauchten unzusammenh;ngende Bilder auf. Mir fiel alles ein, was ich je ;ber Tod durch Ersticken geh;rt oder gelesen hatte. Ein U-Boot mit defektem Motor auf dem Meeresgrund, sechs Mann an Bord – sie lagen unbeweglich, um den Sauerstoffverbrauch so gering wie m;glich zu halten... Konnten sie gerettet werden? Ich begann, mich zu beruhigen, in meiner Kammer sollte die Luft mindestens vierundzwanzig Stunden reichen. Am Abend kommt meine Frau und befreit mich. Und wieder ein unheimliches Bild – ihr Gesicht ist fremd, wechselt den Ausdruck.


Als ich von der Arbeit nach Hause kam, ging ich wie gew;hnlich ins Schlafzimmer, um mich umzuziehen. Ich machte das Licht an und blieb erstarrt stehen. Mein Mann stand in der Mitte des Bettes, hatte die Arme hoch gehoben und bewegte tonlos die Lippen. Als ich sein verzerrtes Gesicht sah, st;rzte ich auf ihn zu:
„Was ist los mit dir?“
Ich wollte seine Hand ergreifen, stie; aber gegen ein unsichtbares Hindernis. Er stand hinter einer durchsichtigen Wand, die, wer wei; wie, in unser Zimmer gekommen war.
„Gro;er Gott! Was ist das?“, schrie ich.
Er bewegte tonlos die Lippen und dr;ckte irgendein St;ck Papier, auf dem irgendwas gekritzelt war, gegen die Wand. Ich versuchte zu begreifen, was da stand, doch die Buchstaben waren verzerrt und verschwammen. Was h;tte es auch gebracht, wenn ich es h;tte lesen k;nnen. Ich musste schnell handeln, um ihn von dort zu befreien. Wir standen einander an der Wand gegen;ber, wie man sich auf dem Bahnhof gegen;ber steht: Der Abreisende schon im Abteil am Fenster, der Zur;ckbleibende auf dem Bahnsteig. Durch die Glasscheibe ist nichts zu h;ren. Und dann sieht man einander an, bis es einem unangenehm wird, und beide sind erleichtert, wenn der Zug sich endlich in Bewegung setzt...
Ich holte schnell einen Hammer und schlug gegen die Wand. Der Hammer prallte federnd zur;ck wie ein Gummiball. Mein Mann beobachtete mich angespannt. Mir graute – sein Gesichtsausdruck ;nderte sich wie die Muster in einem Kaleidoskop. F;r einen Augeblick schien es mir, als h;rte ich ein boshaftes Lachen. Dann begann er, mit dem Finger ;ber die Wand zu fahren und irgend welche Zeichen zu malen. „Er ist verr;ckt geworden“, dachte ich voller Entsetzen.
Ich konnte einfach sein scheu;liches Gesicht nicht mehr sehen und ging in die K;che, um in Ruhe zu ;berlegen, was zu tun sei.
Schlie;lich ging ich zur Hausverwaltung. Anfangs hat man mir einfach nicht geglaubt. Ich musste also eine ganze Delegation von dort in unser Schlafzimmer f;hren – sie betrachteten neugierig meinen Mann, der wie in einem Riesenaquarium stand, im Schlafanzug und unrasiert, tonlos die Lippen bewegte und mit dem Finger ;ber die Wand fuhr. Sie versuchten ebenfalls, die Wand mit dem Hammer zu zerschlagen, erst dann gingen sie, um irgendwo anzurufen, damit man ihnen eine Maschine schickt, mit der Asphalt aufgebrochen wird. Die Maschine wurde f;r die n;chste Woche zugesagt, und sie wollten gehen.
„Er wird verhungern!“, schrie ich.
Da fingen alle an zu er;rtern, wie lange ein Mensch ohne Essen leben kann. Er aber stand die ganze Zeit hinter der Wand und fuhr mit dem Finger dar;ber.
Am n;chsten Tag kamen trotzdem irgend welche Arbeiter. Zuerst versuchten sie die Wand zu durchbohren, dann sie zu durchschlagen, alles ohne Erfolg.
Es wurde Abend und sie waren immer noch besch;ftigt, versuchten es mal hier, mal dort.
Schlie;lich versprachen sie, am Morgen wiederzukommen und zu versuchen, die Decke aus der dar;ber liegenden Wohnung zu durchsto;en. Ich flehte sie an, das gleich zu tun, da mein Mann schon zwei Tage nichts gegessen habe, sie aber sagten, dass ein Mensch sehr lange ohne Essen auskommen k;nne...


Als sie am Morgen erwachte, merkte sie, dass die Wand verschwunden war. Ihr Mann lag sonderbar zusammengekr;mmt da, die H;nde an den Hals gepresst.
„Schl;fst du?“, fl;sterte sie, begriff aber schon, dass er sie nicht h;rte.
Als sie dort anrief, wo man in solchen F;llen anruft, und ihr nichts weiter ;brig blieb, als zu warten, bemerkte sie auf dem Kopfkissen einen Zettel. Sie nahm ihn in die Hand und las: „Die Wand verschwindet, wenn jeder von euch den Namen des anderen darauf schreibt.“
 
WARUM SIND WIR HIERHER GEFAHREN?

Meine Frau und ich stehen auf einer niedrigen Aussichtsplattform in der Gestalt eines riesigen Pilzhutes, halten uns am Metallgel;nder fest und schauen aufs Meer.
„Warum sind wir hierher gefahren?“, sagt meine Frau, ohne in meine Richtung zu blicken. Ich sehe darin keinen Sinn. Ich kann diese von der Hitze verr;ckt gewordene Masse nicht ertragen.“
„Du wolltest  doch ein bisschen Urlaub am Meer machen, in P;rnu...“
„Ist das etwa Urlaub? Acht Mann in einem Zimmer. Ein schreckliches Sportzentrum. Wenn man nicht genug Geld hat, um ein eigenes Zimmer zu mieten...“
Schon seit dem Morgen versucht sie zu streiten. Da ich dem keine Beachtung schenke, ger;t sie endg;ltig au;er sich:
„Wir h;tten ;berhaupt nicht heiraten sollen. Das war v;llig sinnlos.“
Ich antworte nicht. Wir schweigen finster und schauen auf den Strand. Im Sand liegen in dichten Reihen K;rper. Soweit das Auge reicht – ;berall bronze, rot und braun. Ein hei;er Windsto; weht heran. Das Meer glitzert. Eine Welle ergie;t sich ;ber den Sand, weicht zur;ck. Die Urlauber spielen Ball, schaukeln, die Kinder rennen hintereinander her. Ihre Schreie vermischen sich mit dem Rauschen des Meeres zu einem gleichm;;igen Get;se. Pl;tzlich ist aus diesem Get;se heraus ein scharfer Ton, wie ein Schuss, zu h;ren. Er kommt von irgendwo aus der Ferne, von dort, wo der Strand endet und weniger Menschen sind. Ich sehe dorthin. Das Meer glitzert. Im Wasser ist niemand zu sehen.
„Hast du das geh;rt?“, frage ich meine Frau.
„Nein.“
Sie interessiert sich nicht einmal daf;r, was ich meine.
Wir schweigen. Wahrscheinlich ist sie fest entschlossen zu streiten.
Pl;tzlich sagt meine Frau aufgeregt:
„Sieh mal, der Junge da. Im roten Hemd...“
Ein blonder, etwa sieben-achtj;hriger Junge kommt schnellen Schrittes n;her und macht dabei einen Bogen um die sich Sonnenden. Er ist schon fast bei uns angelangt. Der Junge tr;gt ein zerrissenes rotes Hemd. Er hat rote Streifen auf Brust und Bauch. Die rechte Hand presst er gegen die Brust. Doch warum wird das Hemd immer gr;;er? Ich traue meinen Augen nicht: Das ist Blut... Alles weitere geschieht blitzartig. Meine Frau und ich laufen die Wendeltreppe hinunter und rufen:
„Junge! Bleib stehen!“
Der Junge rennt los. Am Restaurant vorbei in Richtung Park. Sein R;cken ist wei;. Ich hole ihn ein, nehme ihn auf den Arm.
„Hab keine Angst“, murmele ich. „Hab keine Angst.“
Ich trage ihn zu einer Bank und lege ihn auf den R;cken. Aus einer kleinen ;ffnung rechts in seiner Brust ergie;t sich bei jedem Atemzug ein Blutschwall. Das Gesicht des Jungen ist wei; und die Sommersprossen darin scheinen unnat;rlich leuchtend.
„Den Rettungswagen!“, schreie ich meiner Frau zu. „Ruf den Rettungswagen!“
Der Junge sieht mich unverwandt an und schweigt. Ich gehe vor ihm in die Hocke und frage:
„Kannst du sprechen? Was ist passiert?“
Er schweigt. Dann fl;stert er:
„Ihr sagt es Mama.“
„Nein, nein! Ehrenwort. Sprich, hab keine Angst!“
„... Uns ist eine Rakete explodiert.“
„Du warst also nicht allein? Wer war noch dabei?“
„Antti und ... Kolka.“
„Wo ist das passiert? Am Strand? Nein? Im Wasser?“
„Ja.“
Meine Frau kommt angelaufen.
„Gleich sind sie da“, sagt sie atemlos.
Ich schicke sie noch einmal anzurufen und mitzuteilen, dass der Junge nicht allein war. Ich nehme seine Hand... Das ist doch einfach unglaublich –  der Junge war, blut;berstr;mt, etwa hundert Meter am Strand, wo es von Menschen nur so wimmelte, entlang gelaufen und niemand hat ihn beachtet... Meine Frau kommt zur;ck. Der Jung liegt ruhig da, schaut in den Himmel, als ob er mit der ganzen  Geschichte nichts zu tun habe. Wir stehen schweigend daneben. Endlich ist die lauter werdende Sirene zu h;ren. Neben uns h;lt der Rettungswagen. Sofort gibt es eine Menschenansammlung. Es hei;t, auch die anderen beiden verletzten Jungen seien gefunden. Der Junge wird auf eine Trage gelegt und ins Auto gebracht.
„Sagt es nicht Mama“, fl;stert er.
„Lassen Sie uns doch mitfahren“, bittet meine Frau.
Doch der Arzt erlaubt es nicht, als er h;rt, dass wir f;r den Jungen Fremde sind, gibt uns aber eine Telefonnummer, unter der wir eine Auskunft erhalten k;nnen.
Am n;chsten Tag rufen wir im Krankenhaus an. Freudig sagt meine Frau mir:
„Sie leben alle drei! Wir beide sind gerade noch im letzten Moment gekommen. Wenn er noch mehr Blut verloren h;tte, w;re er nicht zu retten gewesen. So haben sie gesagt.“
Am Abend sitzen meine Frau und ich in einem Restaurant am Meer. Die Musik spielt. Ich neige mich zu meiner Frau hin;ber und frage l;chelnd:
„Warum sind wir hierher gefahren?“
 

NICHT ALLE B;UME SIND GLEICH

Wenn ich zur;ckdenke, f;llt mir immer wieder jener Abend ein...
Das war Liebe auf das erste Wort.
Auf den ersten Blick kann man sich bei uns nicht verlieben.
An jenem denkw;rdigen Abend glitt ich, nachdem ich, wie alle m;nnlichen Kollegen, ein Parf;mflakon f;r die Ehefrau bekommen hatte, wie immer „Chanel“,  Nr. 500 (jedes Jahr kreiert diese sehr alte Firma ein oder zwei modische Variationen), durch den Tunnel nach Hause und erwartete absolut nichts Neues. Ich wusste sehr wohl, was auf mich wartet.
In einem gem;tlichen H;uschen (H;uschen ist nat;rlich ein Archaismus, doch das ist eine Schrulle des Finanziers, der  einst f;r den Bau unserer Stadt gespendet hatte) erwartet mich in einer blitzsauberen K;che eine bildh;bsche Frau in einer schneewei;en Sch;rze. Der Tisch ist gedeckt.
Weder das Haus noch die Frau sind dieselben wie gestern, obwohl ich manchmal daran zu zweifeln beginne. Kaum ;ffnet man die T;r, sagt sie immer dieselben Worte: „Guten Abend, mein Lieber! Bist du m;de? Gleich werden wir Abendbrot essen.“
Es reicht aber ein Blick aus dem Fenster und die Zweifel schwinden – die dunklen Silhouetten der B;ume ziehen langsam vor;ber. Der riesige Kreis, auf dem die H;user angeordnet sind, dreht sich ununterbrochen, gelenkt von einen Zufallsgenerator.
Mal schneller, mal langsamer...  Mal bleibt er f;r einen Augenblick stehen und dreht sich dann in entgegengesetzter Richtung.
Das riesige Zentrum aber, in dem wir arbeiten, und die zylinderartigen Tunnel, die zu den kleinen H;usern f;hren und die mich an die ;berg;nge eines altert;mlichen Flughafen erinnern, sind unbeweglich.
„Guten Abend, mein Lieber! Bist du m;de? Gleich werden wir Abendbrot essen.“
Manchmal kam in mir der beinahe un;berwindliche Wunsch auf, die allabendliche strahlende Standardbegr;;ung mit einer Grobheit zu beantworten. Doch das einzige, was ich mir erlaubte, war die Frage:
„H;r mal... Wie hei;t du?“
Die Reaktion war immer dieselbe – erschrockenes Erstaunen. Das w;re ja noch sch;ner. Die Vornamen wurden vor zweihundert Jahren abgeschafft.
Ich wusste, was ich riskiere, wenn ich diese Frage stelle. Irgend wann k;nnte es einer dieser strahlend l;chelnden Schablonenfrauen in den Kopf kommen, mich anzuschw;rzen. Aber wer wei;, vielleicht wollte ich ja gerade das...
In der letzten Zeit war mir alles gleichg;ltig, alles, was passieren k;nnte, ist besser als das. Zweihundert Jahre lang wird man immer mit denselben Worten begr;;t. Ich wei; nicht, ob Sie sich das vorstellen k;nnen.
Als ich an diesem Abend das Haus betrat, wunderte ich mich – in der K;che brannte kein Licht.
Ich bemerkte sie in der Dunkelheit nicht gleich. Sie stand am Fenster.
„Guten Abend“, sagte ich und macht das Licht an.
Sie stand mir halbzugewandt, hatte die Arme ;ber der Brust verschr;nkt, schaute abwesend auf die am Fenster vor;berziehenden dunklen Silhouetten der B;ume und r;hrte sich nicht einmal. Sie war ebenso bildsch;n wie alle anderen. Der Tisch war nicht gedeckt.
Ich gestehe, ich war verwirrt.
„Und das Abendbrot?“ fragte ich dumm.
„Es gibt kein Abendbrot“, brachte sie k;hl hervor, ging durch die K;che, an mir vorbei und verschwand im Schlafzimmer, wobei sie mir mit ihrem gesamten Ausdruck zu verstehen gab, wie ;rgerlich ich sie machte.
Mich ersch;tterten gleicherma;en ihre Worte sowie der ver;chtliche Blick, den sie mir zuwarf.
Essen zuzubereiten war in unserer K;che, die hypermodern mit Technik ausgestattet war und in der die Lebensmittel automatisch angeliefert wurden, keine Arbeit. Das machte ich dann auch, gekr;nkt, aber... ihr sonderbares Verhalten hatte etwas Nostalgisches! Es erinnerte mich an die guten alten Zeiten vor etwas mehr als zweihundert Jahren, wenn ein Ehemann, der sich etwas hatte zu Schulden kommen lassen, zu sp;t nach Hause kam. Ich kann mich an diese Zeit noch erinnern, die jungen Leute nat;rlich nicht.
Au;erdem ist der Begriff junge Leute sehr relativ. Alle M;nner haben das absolut gleiche ideale jugendliche ;u;ere, alle Frauen sind die schablonenhafte Ausgabe der vorsintflutlichen f;nfundzwanzigj;hrigen Miss Universum des Jahres 2200...
Wie viele Diskussionen es damals gab, auf wen man sich festlegen sollte, welches ;u;ere f;r die Frauen und welches f;r die M;nner auszuw;hlen sei... Wir M;nner hier sind auch alle sch;n. Nach dem Vorbild des Mister Universum desselben Jahres. Der einzige Grund, warum M;nner und Frauen sich ;u;erlich doch unterscheiden, besteht wohl darin (das wei; ich nicht genau, vermute es aber), dass der gro;e Geldgeber, dessen Ideale von Gleichheit hier verwirklicht wurden, ein unverbesserlicher Weiberheld war.
Geburtstag haben wir alle am selben Tag. Damit niemand gekr;nkt ist. Und alle schenken einander genau die gleichen Geschenke. Die Ehefrauen verschenken eine Krawatte und eine Flasche alten Kognaks „Hennessy plus Gleichheit“ (ich wei; schon lange, dass das ein Imitat ist). Die Ehem;nner schenken den Ehefrauen Parf;m. Sie k;nnen sich sicher vorstellen, dass alle Frauen bei uns nach „Chanel“ duften, die M;nner zu Feiertagen aber nach... hm... Gleichheit... stinken. ;berhaupt, „Ehefrauen“, „Ehem;nner“ – wie archaisch. Das Wort ist geblieben, fr;her h;tte man so eine Frau etwas anders genannt.
Als ich nach dem Abendessen das Schlafzimmer betrat, stand sie wieder da und sah aus dem Fenster, hinter dem in der Dunkelheit die langsam vor;berschwebenden dunklen Silhouetten der B;ume kaum zu erahnen waren. Nur manchmal wurde ihr Gesicht von dem Licht des durch die B;ume grell leuchtenden Lichts des Buchstabens „R“ angestrahlt.
;ber Vorf;lle au;ergew;hnlichen Verhaltens sollte man nat;rlich Meldung machen, doch das war das erste Mal seit zweihundert Jahren. Au;erdem waren mir all diese Vorschriften absolut egal.
Pl;tzlich sagte sie etwas. Nein, es war mir nicht nur so vorgekommen. Sie sah aus dem Fenster und sagte nachdenklich:
„Nicht alle B;ume sind gleich.“
Ich schwieg eine Weile, ersch;ttert nicht nur durch ihre leichtsinnige K;hnheit, sondern auch dadurch, dass sie das bemerkt hatte.
„Ja“, sagte ich, „nicht alle.“
Sie zuckte zusammen und dreht sich j;h zu mir um. Sie sah mich feindlich an und fragte:
„Wirst du mich verraten?“
„Nein“, sagte ich. „Obwohl es den Anschein hat, als ob du das m;chtest.“
„Also, dass du es wei;t“, fuhr sie entschlossen fort. „Ich pfeife darauf.“
Sie h;tte nichts Ersch;tternderes sagen k;nnen.
„Das freut mich“, sagte ich.
„Idiot. Du hast nichts begriffen – ich habe keine Angst vor dir. Mir ist alles egal.“
„Mir aber schon nicht mehr. Ich verstehe, du bist sehr m;de. Komm, wir ziehen uns aus und gehen ins Bett.“
„Du bist ersch;pft“, ;ffte sie mich ver;rgert nach. „,Komm, wir ziehen uns aus!’ ,Wir gehen ins Bett!’ Ich schlafe im G;stezimmer.“
G;stezimmer... Ja, es gibt auch ein „G;stezimmer“ im Haus. Nur G;ste...  das ist Nonsens. Zu Besuch geht man, wie man fr;her gesagt hat, um sich zu zeigen und andere (andere und nicht seinesgleichen) anzuschauen. Bei uns braucht man nur zum Spiegel zu gehen, wie Sie sehen, und schon ist man „zu Besuch“.
Ihre Emp;rung...  Mir ist das fr;her irgendwie nicht in den Sinn gekommen... vielleicht war in meinen Worten auch nichts, was nicht auch jeder andere „Mister Universum“ an meiner Stelle h;tte sagen k;nnen.
„H;r mal“, sagte ich nach einigem Nachdenken. „Sag mir... Wie hei;t du?“
Sie zuckte zusammen. Ihr Gesicht hatte so einen verwunderten Ausdruck, als w;re der Kreis entgleist (Gleise – das sind... schwer zu erkl;ren, ein Archaismus).
„Ich habe keinen Namen. Ich habe aber.... immer davon getr;umt, einen zu haben,“ sagte sie nach einer Weile des Schweigens.
„Na, siehst du, du hast mich falsch verstanden. Ich meinte, du bist es m;de, auf mich zu warten. Nun ja, du hast keinen Grund, mir zu vertrauen. Und ich habe keinen, dir zu vertrauen. Uns bleibt nur eines ;brig. Es zu wagen, einander zu vertrauen. Oder – es nicht zu wagen. Das ist deine Entscheidung. Was haben wir eigentlich zu verlieren? All das Gleiche. Also gibt es auch keinen Unterschied zwischen Leben und Tod. W;ren da drau;en nicht diese B;ume... Wir haben nicht sehr viel Zeit. Nur bis zum Sonnenaufgang.“
Ich zog mich aus und legte mich unter die Decke. Sie war in Gedanken versunken. Nach einer Weile zog sie sich, ohne ein Wort zu sagen, auch aus und legte sich brav neben mich.
Einige Zeit lagen wir schweigend. Drau;en fing es leise an zu regnen. Es geschah etwas... Einerseits, wenn man die B;ume vergisst, war das meine Frau, mit der ich schon zweihundert Jahre zusammengelebt habe und die sich in der Zeit, wie auch ich, ;berhaupt nicht ver;ndert hat.
Wir werden nicht ;lter und sterben nicht an Krankheiten. Es gibt keine Krankheiten mehr. Nur Mord ist m;glich.
Andererseits - und je klarer mir das wurde, umso mehr erfasste mich Bitterkeit, die Ahnung des nahen Verlustes dieses Augenblicks – eines fast unertr;glichen Augenblicks des Gl;cks, das ich jetzt empfand.
Ein str;flicher Augenblick. Einer, dem man sagt „verweile doch“. Er ist eingetreten, zum erstenmal seit zweithundert Jahren.
Schlie;lich brach sie das Schweigen.
„Es ist kaum zu glauben.“
Ich und sie, wir begriffen beide, dass, wenn ich am Abend von der Arbeit nach Hause komme, der Kreis in seiner langsamen Drehung sie unab;nderlich von mir forttr;gt. Mir wird sich genau so eine T;r ;ffnen, das wird aber schon nicht mehr dieses Haus sein und die Frau, die ihr gleichen wird wie ein Tropfen Chanel dem anderen, wird nicht sagen und auf gar keinen Fall glauben, wenn ich ihr sage, dass es etwas, zumindest etwas gibt, was nicht gleich ist...
„Jetzt werde ich dem Schicksal danken“, fl;sterte sie.
„Danke dem Zufallsgenerator“, sagte ich. Und f;gte hinzu: „Meine Liebe.“
Zum erstenmal seit zweihundert Jahres wollte ich diese Worte aussprechen.
Wir gaben einander Namen. Ein Vergehen...
Unsere str;fliche Nacht dauerte sehr lange. Schlie;lich wird die Zeit nicht in Stunden und Minuten gemessen, sondern in der Menge des Erlebten. Doch auch sie verflog wie ein Traum.
Am Morgen, ehe es Abschied zu nehmen galt, verabredeten wir ein Zeichen, das wir einander bei einer Wiederbegegnung geben w;rden, bessergesagt ein Kennwort...
Seit dem hat sich etwas ver;ndert.
Jeden Abend warte ich, was die neue „Miss“ auf meinen Gru; erwidert. Wenn ich das Haus betrete, sage ich unver;ndert immer denselben Satz.
Ich schlie;e nicht aus, dass sie nicht einmal h;ren, was ich sage. Sie wissen doch, haben es in der Schule auswendig gelernt, dass es keine ungleichen Dinge gibt. Deshalb bemerken sie auch nicht, was so deutlich vor dem Fenster zu sehen ist. Ohne auch nur im geringsten zu zaudern, antworten sie auf meine au;ergew;hnliche Begr;;ung:
„Guten Abend, mein Lieber! Bist du m;de? Gleich werden wir Abendbrot essen.“
Ich hatte und habe keineswegs die Absicht, ihr irgendeine dumme Treue zu halten. Ich habe aber auch niemandem ihr Parf;m gegeben. Und mit den anderen... Manchmal mache ich mich beinahe ;ber sie lustig. Daf;r, dass sie, weil sie ihr ;u;erlich absolut gleich sind, in mir die Hoffnung bis zu dem Augenblick wecken, in dem sie mir antworten.
Geduldig warte ich, wann das gewaltige Rad, das seine riesige Runde dreht, sie  durch ein zuf;lliges Zusammentreffen, das Gesetz der sich wiederholenden seltenen Ereignisse zu mir zur;ckbringt.
Vielleicht vergehen noch zweihundert Jahre. Eines Abends wird sich mir wieder die richtige T;r ;ffnen. Ich werde der Frau, die mich erwartet, sagen:
„Nicht alle B;ume sind gleich.“
Sie wird l;cheln und antworten:
„Nicht alle.“
Ich hoffe sehr auf den Zufallsgenerator.
 
ARISTARCH UND DER ZAHME SCHMETTERLING

Er bemerkte sie schon von ferne.
Ein riesiger Schmetterling – eine Schmetterlingsfrau – sa; auf dem schmalen Weg, auf dem Aristarch nach Hause ging. Gro; und leuchtend wie der Schweif eines Pfauen sa; sie auf seinem Weg, die Fl;gel halb ge;ffnet. Zuerst blieb er vor ;berraschung starr stehen, dann schlich er sich auf Zehenspitzen heran.
Die Schmetterlingsfrau dachte ;berhaupt nicht daran wegzufliegen. Nicht einmal als der Schatten des sich n;hernden Aristarch auf sie fiel. In aller Seelenruhe sa; sie da und versperrte ihm den Weg.
Sp;ter, als er in Gedanken zu diesem Augenblick zur;ckkehrte, erinnerte er sich, dass gerade da in ihm das seltsame Gef;hl aufkam, sie mache sich ;ber ihn lustig.
Doch pl;tzlich legte sie die Fl;gel zusammen, wodurch sie ein dem;tiges und schutzloses Aussehen bekam. Es schien, als wolle sie sagen: Nimm mich, ich bin ganz in deiner Macht.
Aristarch griff sehr vorsichtig mit beiden H;nden nach den zusammengelegten Fl;geln. Sie bewegte sich nicht. Ruhig hing sie in seinen H;nden, als ob sie keinen  Selbsterhaltungstrieb h;tte. „Sie ist zahm“, glaubte Aristarch.
Am n;chsten Tag am Arbeitsplatz im Konstruktionsb;ro erstarrten einfach alle, als in die allgemeine leise Unterhaltung pl;tzlich Aristarchs laute Stimme platzte:
„Kinder, wer von euch wei;, was Schmetterlinge fressen?“
Besonders ersch;ttert waren die Kollegen durch die Anrede „Kinder“, die f;r den immer so menschenscheuen Aristarch v;llig untypisch war. Er ging den Mitarbeitern aus dem Weg. Fast nie begann er ein Gespr;ch als erster. Wenn sich jemand mit einer Frage an ihn wandte, sah man, wie seine Ohren an den R;ndern anfingen rot zu werden, und bei einem l;ngeren Gespr;ch bekam er hochrote Ohren. Selbst sein Gang war seltsam, er lief und hatte die H;nde an der Hosennaht, wodurch sich der Eindruck seiner Gehemmtheit noch verst;rkte.
„Wahrscheinlich Kohl“, schlug schlie;lich einer der Kollegen vor, ohne zu ahnen, welch unverzeihlichen Fehler er beging.
Als er sich seine sch;ne Schmetterlingsfrau auf einem Kohlkopf sitzend vorgestellt hatte, verstummte Aristarch f;r lange Zeit, blickte finster drein und gr;;te  diesen Mitarbeiter nicht mehr.
Nach der Arbeit ging er in die Bibliothek, w;lzte Nachschlagewerke und fand heraus, was er der Schmetterlingsfrau zu essen geben k;nnte. Bl;tennektar, den es nat;rlich nicht zu kaufen gab. Also musste er f;r die Schmetterlingsfrau regelm;;ig Blumen kaufen, und zwar gro;e Mengen.
Nachdem er herausgefunden hatte, welche sie bevorzugte, und die Schmetterlingsfrau bevorzugte sehr teure Rosen, schleppte Aristarch sie armvoll nach Hause.
Abends nach der Arbeit sa; er auf dem Sofa und beobachtete ger;hrt, wie die Schmetterlingsfrau zu dem Rosenstrau; flog, der in einer gro;en Bodenvase stand, sich darauf niederlie;, sich mit ihren klammernden Pf;tchen an den Stielen festhielt und ihr bezauberndes R;sselchen, besser gesagt, ihr N;schen, wie Aristarch es nannte, in das Herz der Blume senkte.
Rosen im Winter sind ein teures Vergn;gen, und Aristarch musste mit dem Leiter der Nachbarabteilung verhandeln, um zus;tzliche Arbeit zu bekommen.
Bald fiel Schnee, es wurde Winter, und Aristarch passte besorgt auf die Schmetterlingsfrau auf, damit ihr nichts Unvorhergesehenes zusto;e.
Sie verhielt sich ruhig. Es kam ihr allerdings nicht in den Sinn, zu Aristarch hinzufliegen, wenn der von der Arbeit nach Hause kam. Sie hing weiter sehr ruhig an ihrem Lieblingsplatz, festgekrallt an dem Store am Fenster, hoch oben fast an der Gardinenstange und sah aus wie ein riesiger farbenfroher chinesischer F;cher.
Aristarch ersetzte sogar den alten Store durch einen neuen teuren und modernen. Und putzte die Fenster spiegelblank.
Die Schmetterlingsfrau lie; sich erstaunlicherweise geduldig an den zusammengelegten Fl;geln anfassen und von einem Platz zum anderen tragen.
Bald fiel den Kollegen auf, welch erstaunliche Wandlung mit Aristarch vorging. Er begann, sich gut, ja sogar elegant zu kleiden, sich in das allgemeine Gespr;ch einzumischen, allerdings meist zur Unzeit, und machte jetzt den Eindruck eines Menschen, der st;ndig gut gelaunt, ja exaltiert ist. Worum es auch immer ging, Aristarch vermochte es, von jedem Thema dazu ;berzuleiten, wie teuer jetzt Blumen seien, wo es duftende Blumen g;be: „Nicht einmal Rosen duften jetzt!“ und „Muss man Blumen aus Holland importieren, wenn man nahrhaftere Blumen direkt hier viel billiger produzieren kann“.
Diese „nahrhaften Blumen“ waren unter den Kollegen in aller Munde. Hinter seinem R;cken tuschelten und kicherten sie und wiederholten „nahrhafte Blumen“.
Viel ver;nderte sich auch in seiner h;uslichen Atmosph;re. Aristarch hatte fr;her irgendwie nicht bemerkt, wie trostlos seine Wohnung im Grunde war. Wie klapprig das Sofa war, das er von seinen Rentner-Eltern ;bernommen hatte, die in einem kleinen Ort in der N;he von Tallinn wohnten. Wie ausgeblichen die Tapeten waren. Dabei hatte er schon viele Jahre anst;ndig verdient, besser als viele seiner Kollegen, die eine Unmenge Zeit und Geld f;r das feine Leben aufwendeten.
Was hinderte ihn eigentlich, die Wohnung gegen eine bessere zu tauschen?
Bald darauf erfuhren die Kollegen, dass Aristarch ins Zentrum umgezogen war und seine neu erworbene Wohnung renovierte.
Es wurde ;ber die Renovierung geredet, es gab Sticheleien, dass es nicht schlecht w;re, die Kollegen zur Wohnungseinweihung einzuladen.
Aristarch wurde irgendwie r;tselhaft lebhaft, bl;hte auf und versprach, sie unbedingt einzuladen, und verplapperte sich sogar, dass er eine ;berraschung f;r sie h;tte.
„Er wird uns nahrhafte Blumen anbieten“, l;sterten die Kollegen.
Die Renovierung dauerte den ganzen Winter.
Die ganze Zeit machte sich Aristarch Gedanken, ob es der Schmetterlingsfrau in der vor;bergehend gemieteten billigen Wohnung am Stadtrand gut gehe. Doch auch dort hakte sie sich als erstes an der Spitzengardine am Fenster fest, labte sich an dem Nektar der Rosen und wartete ruhig den Umzug in die neue Wohnung ab.
In dem neuen Appartement tauchten allerdings einige Probleme auf. Die Raumh;he betrug hier dreieinhalb Meter und als die Schmetterlingsfrau an dem Store unter der Gardinenstange thronte, kam Aristarch von der Fu;bank aus schon nicht mehr an sie heran.
Er stand lange am Fenster, den Kopf im Nacken, und versuchte, sie zu ;berreden, doch etwas weiter nach unten zu fliegen. Doch sie dachte nicht einmal daran. Sie stellte sich taub und schenkte seinen Bitten keine Beachtung.
Aristarch musste also in einen Laden gehen und eine Stehleiter kaufen. Die Leiter sah die Schmetterlingsfrau offensichtlich als lustiges Spielzeug an, und nachdem sie geduldig abgewartet hatte, bis Aristarch die Leiter polternd aufgestellt hatte und sie hinaufkletterte, brachte sie es fertig, in dem Augenblick davonzuflattern, als er auf der letzten Sprosse stand, die Hand nach ihr ausstreckte und vor sich hin sprach: „Komm her, meine Sch;ne“.
Auf den Stra;en aber rannen schon B;che, bildeten sich Pf;tzen und die M;rzsonne w;rmte so zuversichtlich. Aristarch ergatterte zum Feiertag wundervolle Rosen mit einem bezaubernden Duft, die ein einheimischer G;rtner gez;chtet hatte.
Die Schmetterlingsfrau flog freudig zu dem Strau; und begann mit sichtlichem Vergn;gen den Nektar zu trinken.
Der gl;ckliche Aristarch betrachtete ger;hrt dieses wirklich sehr ;sthetische Bild. Es war an der Zeit, die Kollegen zur Wohnungseinweihung einzuladen, um auch ihre ;sthetischen Gef;hle wachzur;tteln.
Zuerst besichtigten die G;ste total begeistert die Wohnung, alle Zimmer au;er einem, in dem sie, wie der Gastgeber versprochen hatte, die ;berraschung erwartete.
Der Tisch war wunderbar gedeckt, Aristarch strahlte und gab sich erstaunlich gel;st.
„Die ;berraschung, wir wollen die ;berraschung sehen!“, verlangten die gegen Ende des Abends angeheiterten Kollegen.
Er musste erneut auf die Leiter klettern, um die Schmetterlingsfrau zu erreichen, als er jedoch ins Wohnzimmer zur;ckkehrte und sie an ihren zusammengelegten Fl;geln trug, staunten alle.
Er lie; sie feierlich los und sie flog, getreu ihren schlechten Gewohnheiten, nachdem sie eine Runde durchs Zimmer gedreht hatte, zur Gardinenstange und hakte sich am Store fest. Aber wie um zu kokettieren faltete sie ihre Fl;gel nicht zusammen, sondern breitete sie weit aus, um ihre Sch;nheit zur Schau zu stellen.
„Du meine Kluge“, lobte Aristarch sie in Gedanken.
„Das ist ja einfach ein Wunder!“, raunten die Kollegen durcheinander. „Wo hast du die denn aufgetrieben?“
„Sie ist mir selbst zugeflogen“, sagte Aristarch stolz.
Die Kollegen glaubten ihm nicht ganz, aber waren zweifelsohne von der Sch;nheit der Schmetterlingsfrau hingerissen.
Da alle etwas getrunken hatten und fast alle, au;er Aristarch, Raucher waren, musste er ihnen erlauben, in der K;che zu rauchen. Und als die Kolleginnen die Wohnung l;ften wollten, geschah das Nichtwiedergutzumachende.
Die Schmetterlingsfrau lie; unerwartet den Store los, flog zuerst unter die Decke, drehte pl;tzlich in Richtung des weitge;ffneten Fensters und flog – hast du nicht gesehen – davon...
Vergeblich versuchten die Kolleginnen Aristarch zu ;berzeugen, sich das nicht so zu Herzen zu nehmen: „Mach dir keine Gedanken! Sie musste doch irgendwo ;berwintern!“ Er war v;llig am Boden.
Am n;chsten Tag reichte der finstere und schweigsame Aristarch seine K;ndigung auf eigenen Wunsch ein.

...Viele Jahre sp;ter stie; ein fr;herer Kollege zuf;llig auf eine Zeitungsnotiz, in der es hie;, dass im Blumenpavillon in Pirita eine Ausstellung – „Schmetterlinge in der Welt von heute“ – er;ffnet worden sei, in der die Schmetterlingssammlung des in Paris lebenden Aristarch K., der aus Estland stamme, gezeigt werde.
An dieser Stelle sei gesagt,  dass das Kollektiv, in dem der Sammler fr;her gearbeitet hatte, sich in den 10 Jahren im Grunde nicht ver;ndert hatte. Nur eine st;ndig meckernde ;ltere Dame war in Rente gegangen und daf;r war eine junge begeisterungsf;hige Expertin eingestellt worden.
Am Wochenende ging das Kollektiv geschlossen in die Ausstellung.
Schon vom Eingang der Ausstellungshalle aus erblickten sie Aristarch, der in den vergangenen Jahren eher j;nger geworden als gealtert war. Er stand im Smoking und mit schwarzer Fliege in der Mitte des Saales. Rechts und links an seinen  Armen hingen zwei hochgewachsene sehr schlanke Blondinen. Gesch;ftig erl;uterte Aristarch den an ihn herantretenden ihm bekannten und unbekannten Besuchern der Ausstellung etwas.
;berall an den W;nden und in den Vitrinen auf den Tischen waren unter Glas getrocknete Schmetterlinge zur Schau gestellt, die mit akkurat ausgerichteten Fl;geln auf die Unterlage aufgespie;t waren. Die erstaunliche Sch;nheit und Vielfalt der Sammlung verbl;ffte alle.
Am Rande der Ausstellung war davon die Rede, dass Aristarch schon vor langer Zeit seine erste Million zusammen gehabt habe, sein Verm;gen jetzt aber nicht genau zu beziffern sei, aber bekannt sei, dass er im 16. Bezirk von Paris wohne, was nat;rlich Nicht-Parisern nichts sagt, die Intonation, mit der diese Worte ausgesprochen  worden waren, sagte aber alles.
Als Aristarch seine ehemaligen Kollegen erblickt hatte, ging er gewichtig auf sie zu, sch;ttelte jedem die Hand und fragte, der neuen Kollegin fr;hlich zuzwinkernd: „Na, wie findet ihr die Ausstellung?“
Seltsamerweise ging in dieser Atmosph;re sein famili;res Verhalten mit ihm durch, das offensichtlich die Anstandsregeln im allgemeinen Verst;ndnis der hiesigen high society  sprengte, und das verlieh ihm sogar zus;tzlichen Charme.
„Du bist ja toll, Aristarch“, sagte sein fr;herer Chef zu ihm. „Wollen wir nicht Dir zu Ehren morgen Abend die Sauna anheizen?“
„Leider bin ich morgen um diese Zeit schon im Flugzeug nach Helsinki unterwegs, von da aus geht es dann nach Tokio“, sagte Aristarch. „Ich er;ffne dort ein kleines Schmetterlingsmuseum.
„So sehr lieben Sie die Schmetterlinge!“, rief die junge Mitarbeiterin seiner fr;heren Abteilung aus, die gl;cklich ;ber die Bekanntschaft mit einer so very important person war. „ Sie haben eine wunderbare Sammlung!“
„Oh ja“, Aristarch sah sie vieldeutig an. „Sie k;nnen sich nicht einmal vorstellen, wie ich sie liebe.“
 
MEIN KOPF

Vor langer Zeit, noch in der Kindheit, las ich „Der Kopf des Professor Dowell“.
H;tte ich mir damals vorstellen k;nnen, dass dieses Schicksal auch mich ereilen w;rde? Dass ich mich und meine Umgebung fragen w;rde: Wo sind meine Beine? Meine Arme? Wo ist mein K;rper?
Ich kam in einem Krankenzimmer zu mir, allerdings nicht in einem Bett, sondern auf einem kleinen Tisch am Fenster. Und ich begriff keineswegs sofort, was von mir ;brig geblieben war... nur der Kopf. Das letzte, woran ich mich erinnern konnte, war der Augenblick vor dem Frontalzusammensto; mit dem entgegenkommenden  Fahrzeug.
Der erste, den ich erblickte, war mein Arzt, der mich mitf;hlend ansah.
Wie ich sp;ter erfuhr, habe ich eben dank seinen Bem;hungen ;berlebt. Genauer gesagt, hat mein Kopf ;berlebt. Das ist alles, was von mir nach dem Autounfall ;brig geblieben ist „Dank seinen Bem;hungen!“, dachte ich bitter und schloss die Augen, „Wie er das Wort ‚Bem;hungen’ betont hatte. Und nat;rlich dank meinem Kapital. Das war ein Anreiz f;r ihn, um mein Leben zu k;mpfen – soviel hatte er fr;her nirgends  bekommen  und w;rde er auch niemals von irgendwem bekommen. Wenn ich leben wollte, w;rde ich mich jetzt f;r meine Gro;z;gigkeit loben, nun blieb mir nur noch, sie zu verfluchen. Daf;r war also mein Geld gut, meine Qualen zu verl;ngern.“
Als das ganze Grauen meiner neuen Situation offensichtlich wurde, ;berh;ufte ich den Arzt mit Vorw;rfen. Warum hatte er um mein Leben gek;mpft?
„Wozu soll ich jetzt leben? Wozu?“
Er schwieg schuldbewusst.
„Ja, ich bin ein Multimillion;r. Doch wozu brauche ich jetzt das Geld?“, ;berlegte ich mit geschlossenen Augen, als der indirekte Verursacher meiner Qualen sich entfernt hatte. Das Schrecklichste ist, dass ich meine Millionen nicht genutzt habe, als meine Extremit;ten noch unversehrt  waren. Wie h;tte ich mich aber anders verhalten k;nnen? Ich hatte einfach keine Zeit. Ich bin nirgendwo hin gefahren, sa; von fr;h bis sp;t am Computer, buchst;blich hypnotisiert von der Leichtigkeit, mit der ich das Geld verdiente. Ich bin  nicht einmal zur Bank gegangen, sondern habe das Geld per Internet dorthin ;berwiesen.
Die Welt ist so reich und vielf;ltig... ich h;tte die ganze Welt bereisen k;nnen, in F;nfsternehotels absteigen, den Hauch des Ozeans, den Wind auf Bali und Sumatra..., die sengende Hitze der Sahara versp;ren k;nnen...,  ich habe noch nicht einmal die Pyramiden gesehen, dabei h;tte ich eine Individualreise buchen und sogar eine individuelle Besichtigung ohne die Massen von Touristen bezahlen k;nnen...  Tja, was soll man sagen – ich habe mit meinen siebenunddrei;ig Jahren  nicht einmal einen Erben, dem ich mein unn;tzes Kapital hinterlassen k;nnte.
Mich erschreckte der einfache Gedanke, dass ich, hypnotisiert von der Geschwindigkeit, mit der ich vom durchschnittlichen Ingenieur zum Multimillion;r geworden war, mich nur noch an meinem st;ndig wachsenden Bankkonto erfreute und mich strikt an das Prinzip hielt: Wenn du siehst, dass sich die Summe verdoppeln l;sst, verdopple sie.
Was sind das f;r Reisen, was ist das f;r ein Urlaub, wenn man sich keinen Augenblick vom Gesch;ft abwenden durfte, denn bei so fantastischen Einnahmen k;me einen eine Woche Abwesenheit etwa zwanzigtausend Dollar zu stehen. Und  nicht nur tausend, wie eine Reise kostet.
Ich habe nicht einmal jemanden, dem ich mein Kapital vermachen kann... Verwandten, die sich meiner erst erinnerten, als sie Geld brauchten? Die w;rden sich ;ber meinen Tod freuen. Und ich mich auch.
Nach mehreren Monaten fruchtlosen ;berredens, das System zur Lebenserhaltung meines Kopfes abzuschalten, tat ich so, als h;tte ich den Kampf aufgegeben. Ich muss es ertragen, bis ich bei mir zu Hause bin, dort werde ich mir schon etwas ;berlegen. Schlie;lich k;nnen sie mich nicht die ganze Zeit unter Kontrolle halten.
Zum erstenmal im Leben begann ich dar;ber nachzudenken, was das eigentlich ist – unser „ich“. Wir sagen „meine H;nde“, „meine Beine“, „mein Kopf“. Doch jetzt ist das ganze „ich“ nur der Kopf. Anstelle meines Herzens ist jetzt eine kleine Pumpe, ein k;nstliches Herz. Doch meine Selbstwahrnehmung hat sich ;berhaupt nicht ver;ndert. Abgesehen von der gedr;ckten Stimmung wegen des Ungl;cks, das mich ereilt hat...
Schlie;lich wurde ich aus dem Krankenhaus entlassen. Begleitet von einer ganzen Eskorte – Mediziner, body guards, engste Mitarbeiter – fuhr ich nach Hause. Das sah so aus: Mein Kopf stand, wie ein Denkmal seiner selbst, auf einem durchsichtigen, auf Bestellung angefertigten Kubus, in dem, wie mir der Konstrukteur erfreut erl;uterte, durchsichtige R;hrchen zu sehen waren. Damit der Prozess der Lebensfunktion immer sichtbar sei und jede St;rung sofort bemerkt werde und behoben werden k;nne.
„Du bist ;bers Ziel hinausgeschossen“, dachte ich, als ich den Bericht des Konstrukteurs anh;rte, wie klug er sich das alles ;berlegt habe und wie gut und komfortabel  das jetzt f;r meinen Kopf sei.
Auf eine St;rung hatte ich ja die ganze Zeit gehofft. Aber ich hatte bereits begriffen, dass ich keine Verb;ndeten hatte. Es schien so, dass alle, wirklich alle, von der Idee besessen waren, meinen Kopf am Leben zu erhalten. H;tten sie es lieber selbst ausprobiert, wie es mir jetzt geht, dachte ich bitter. Besonders nachts, wenn die Schnittstelle am Hals so zu  schmerzen beginnt, dass an Schlaf nicht zu denken ist.
Sie haben mich nach Hause gebracht, und ich habe dar;ber nachgedacht, dass ich dort endlich von diesem ausgekl;gelten Kubus herunterrutschen kann. Ich muss jemanden von den Angestellten oder Medizinern, von denen jetzt ein ganzer Schwarm um mich herumwieselt, dazu ;berreden mir zu helfen. F;r Geld ist das kein Problem. Es h;ngt alles von der Summe ab.
Als sie mich nach Hause brachten, war ich so ersch;pft, dass ich sogleich einschlief, und als ich erwachte, erblickte ich einen Arzt, der neben meinem Denkmal-Kubus Wache hielt.
„Wollen Sie, dass ich Ihnen etwas vorlese?“
Also, es gibt doch Idioten auf der Welt... Er will mir etwas vorlesen. Wor;ber, m;chte ich wissen? ;ber all das, was mir jetzt unerreichbar ist?  Eigentlich ist er kein Idiot; er ist ein ganz normaler Mensch. Das ist ein ganz normales menschliches Missverst;ndnis. Niemand, eigentlich niemand, ist imstande, sich in die Lage eines anderen Menschen hineinzuversetzen. Und an meine Stelle m;chte schon gar keiner unter gar keinen Umst;nden. Doch ich sp;rte intuitiv, dass meine Millionen trotz meiner misslichen Lage meine Umgebung nach wie vor hypnotisierten.
„Nein, will ich nicht.“
Dann fragte er, ob er den Computer einschalten solle, ob ich nicht sehen wolle, wie  die Gesch;fte gingen.
Die Gesch;fte... Wozu brauche ich jetzt  Geld? Nur um jemanden zu ;berreden, mich von diesen R;hrchen in dem gl;sernen Kubus abzuschalten.
Doch er hatte ihn schon eingeschaltet und rollte mein „Monument“ dort hin. Als ich mich wieder vor dem Computer befand, geschah etwas mit mir. Ich habe f;r diese Zeit gewisserma;en vergessen, dass ich jetzt ein Wesen ohne K;rper war. Ich empfand mich pl;tzlich ... wie soll ich es sagen ... wieder als mich selbst. Ich erkl;rte meinem Assistenten (zuerst hatten sie mir eine Krankenpflegerin angeboten, ohne zu begreifen, wie erniedrigend das ist), wie die erforderlichen Dateien und Internetseiten zu ;ffnen seien.
Die ganze Zeit, w;hrend mein Assistent nach meiner Anweisung die Maus ;ber den Tisch bewegte, dachte ich nicht an mein Ungl;ck.. W;hrend meiner Abwesenheit waren die Gesch;fte schlecht gelaufen. Aus den H;nden geglitten... H;nde, Beine... Anstelle von Gewinn auch hier Verluste.
Ich sp;rte, dass mein Gehilfe etwas von mir erwartete.
Verluste ;ber Verluste. Meine Partner kannten nicht alle Geheimnisse meiner Gesch;ftst;tigkeit... Tja, sollte ich ihnen diese Geheimnisse l;ften und erst dann sterben? Ist dir nicht eigentlich alles egal? – fragte ich mich selbst. Das, was ich jetzt besa;, w;rde, wenn ich weiter existieren wollte, was jetzt sinnlos geworden war, noch f;r zwei Leben reichen, schlie;lich braucht ein Kopf nicht so viel. Die Kosten waren allerdings h;her als fr;her, denn der Kubus und sein Bedienungspersonal waren das teuerste „Vergn;gen“, das ich mir je “geleistet“ habe. Da sind aber Summen, die man aber durch reale Kosten doch nicht ausgeben kann. H;chstens, wenn man Wolkenkratzer und andere Immobilien erwirbt.
Vor dem Tod wollte ich einerseits eine ausf;hrliche Anleitung, eine Art „Handbuch“ f;r die Gesch;fte der von mir gegr;ndeten Firma hinterlassen, andererseits wollte ich es auch wieder nicht. Damit die gl;cklichen Erben (sehr entfernte Verwandte, die mir nicht einmal Briefe geschrieben haben) dort nichts durcheinander bringen und am Ende nicht ruiniert sind. Wenn ich selbst so schlau war, dass ich nur Geld verdient habe, und es doch nicht genutzt habe... Andererseits war ich prinzipiell immer dagegen, jemandem Geld einfach nur so zu geben. Ich bin sicher, dass, wenn einer nicht in der Lage ist, selbst etwas zu erarbeiten, er alles verlieren wird, mag man ihm auch noch soviel geben. Das liegt einfach in seinem Wesen, obwohl er sich dessen selbst nicht bewusst ist. So habe ich immer gedacht, nun aber war ich bereit, mich ohne Bedauern von meinem Verm;gen zu trennen.
Es gab nat;rlich eine Zeit, da habe ich den N;chsten geholfen. Da war ich aber noch nicht so sehr reich. Jetzt wei; ich, dass man mit Dankbarkeit nicht rechnen kann. Alle sind von den seltsamen Ideen angesteckt: Wenn du reich bist, bist du also uns gegen;ber schuldig.
Zugleich wurde mir pl;tzlich bewusst, dass ich sie, trotz meiner hilflosen Situation, in der Hand habe (obwohl ich keine H;nde habe) und nicht sie mich. Sobald ich ihnen die Karten offen lege, werde ich von ihnen abh;ngig sein.
Sonderbar, ich wollte nicht mehr leben, ich brauchte das Geld nicht mehr, doch die Perspektive, abh;ngig zu sein, schreckte mich mehr als der Tod.
Ich musste die entstandene Situation ;berdenken. Ich sagte dem Arzt, dass ich m;de sei, bat ihn, den Computer auszuschalten, und schloss die Augen.
Zum erstenmal nach dem Unfall dachte ich nicht ;ber m;glichen Methoden der Selbstt;tung nach, sondern dar;ber, wie ich die ins Wanken geratene Finanzlage (sie k;nnte ;brigens noch ein paar Jahre schwanken und ich w;rde trotzdem nicht verarmen) korrigieren konnte, ohne den Assistenten alle Gesch;ftsgeheimnisse zu offenbaren. Au;erdem war ich durch noch etwas ersch;ttert. Ich hatte ;berhaupt nicht erwartet, dass ich so emp;rt dar;ber sein w;rde, wie die Dinge in meiner Abwesenheit gelaufen waren. Schlafm;tzen, dachte ich bitter. Das geschieht euch eigentlich recht. Ihr habt Arme und Beine, und ihr... Ich aber muss f;r die einfachste Handlung um Hilfe bitte.
Nach unruhigem Schlaf entsann ich mich pl;tzlich an neue Entwicklungen bei der Computermaus. Besser gesagt, ihres Analogons. Irgendwo hatte ich gelesen, dass bereits eine M;glichkeit entwickelt ist oder wird, den Cursor mit Hilfe des Blickes, genauer, der kleinsten Bewegung der Pupille zu verschieben und anzuhalten.
Am n;chsten Tag bat ich den Assistenten, alle Informationen einzuholen und, wenn so ein Computer bereits entwickelt ist, ihn zu erwerben.
Nachdem ich diese Anweisung gegeben hatte, begriff ich pl;tzlich, dass ich weiterleben wollte.
Eben der neue Computer, den man mir eine Woche sp;ter lieferte, ;berzeugte mich davon. „Wenn du sterben willst, warum hast du ihn dann gekauft?“, fragte ich mich. „Also... wirst du leben.  Also willst du leben.“
Der neue Computer war wirklich phantastisch. Die kleinsten Bewegungen meiner Pupille verschoben den Cursor auf dem Bildschirm, wahrscheinlich durch ein eingebautes Fotoelement, das ist allerdings das Geheimnis der Herstellerfirma.
Man besorgte mir auch ein Zusatzger;t anstelle der Tastatur, mit dem der Text mittels der Stimme eingegeben werden konnte.
„Sie haben alle frei“, sagte ich nach einer kurzen Beratung mit den Assistenten.
Ich denke, manche haben die Ironie in meiner heiseren Stimme herausgeh;rt. Ich wette, fast alle tr;umten davon, mein Gesch;ft zu ;bernehmen.
Bald regelte sich mein gewohnter Tagesablauf.
Fr;her war ich sehr fr;h aufgestanden, nahm mir, nachdem ich mich gewaschen hatte, eine Tasse Kaffee und setzte mich an den Computer, weil ich es nicht erwarten konnte nachzusehen, welche Aktien gestiegen und welche gefallen waren. Ebenso verfolgte ich st;ndig die Schwankungen der Devisenkurse.
Jetzt  tat ich dasselbe, nur das Gesicht wischte mir mein Arzt – mein Kammerdiener – mit einem feuchten Tuch ab, und einige Zeit sp;ter begann ich auch Kaffee zu trinken, er floss direkt aus einem R;hrchen, das in die Kehle eingesetzt war. Die Geschmacksempfindungen sind aber erhalten geblieben, sie sind genau so wie fr;her!
Zuerst erlaubte man mir (mir  - erlaubt), nur zwei Stunden pro Tag zu arbeiten, doch bald ;berzeugte ich meine Untergebenen, dass ich ihnen in diesem Falle das Gehalt k;rzen m;sste, denn um die entstandene Situation zu korrigieren, muss ich viel l;nger, im Idealfall 10-12 Stunden wie fr;her arbeiten.
Die Untergebenen ;bten Druck auf die ;rzte aus und bald verbrachte ich trotz des  schmerzenden Halses an der Schnittstelle, wo er auf dem Kubus aufliegt, sechs Stunden am Computer. L;nger hielt ich es bisher selbst nicht aus. Ich hatte den Gedanken, den Arzt daf;r zu bezahlen, dass er mich von dem System der Lebenserhaltung abschaltet, bereits aufgegeben. Mir wurde pl;tzlich klar: Was hat sich eigentlich ver;ndert? Genau genommen – nichts. Nur der Hals schmerzt, mitunter unertr;glich. Aber sonst... Wie vor dem Unfall ging ich ins Internet, sendete und empfing Emails, abends schlief ich v;llig ersch;pft ein. Geistige Arbeit strengt nicht weniger an als k;rperliche.
Es hatten sich nur zwei Dinge ver;ndert: Meine Untergebenen betrachteten mich wie einen K;rperbehinderten – herablassend. Sie versuchten nat;rlich, das zu verbergen, aber ich empfand das alles. Und das zweite: Selbst fl;chtige Begegnungen mit Frauen (zu mehr hatte ich auch fr;her keine Zeit) wurden jetzt unm;glich.
Diese zwei Dinge bedr;ckten mich sehr - das zweite viel weniger, offensichtlich weil im Organismus (ist ein Kopf ein Organismus?) keine Hormone mehr ausgesch;ttet wurden, die einen auf der Suche nach einer Frau die Arbeit hinschmei;en lassen. Doch die verdeckte Geringsch;tzung meiner Untergebenen und Partner empfand ich auf jeder Sitzung. Aus alter Gewohnheit berief ich sie t;glich, manchmal sogar zweimal pro Tag ein.
Ich war reicher als sie alle, war ihr Chef, ihr Boss, sie aber sahen in mir ein besch;digtes Wesen!
Ein halbes Jahr sp;ter liefen die Gesch;fte der Firma wieder gut, ich war zu Kr;ften gekommen und die Schmerzen am Hals qu;lten mich nicht mehr so sehr. Gerade da berief ich die Sitzung ein und teilte den Partnern und F;hrungskr;ften der Firma mit, dass hier nur noch diejenigen arbeiten w;rden, die bereit und f;hig w;ren, mit mir auf gleicher Stufe zu stehen.
Was ich mit „auf gleicher Stufe“ meine, erkundigte sich einer meiner Stellvertreter – meine rechte Hand – fassungslos.
„Mit ebenso einem Computer zu arbeiten wie ich und es zu wagen, auf H;nde und F;;e zu verzichten.“
„Also sie nicht zu benutzen?“, fragte einer in die eingetretene Stille.
„Nein. Keine zu haben. Ich gebe Ihnen eine Woche zum ;berlegen. Alle haben frei“, ert;nte meine heisere Stimme in der Grabesstille. „Wer nicht bereit ist, mir zu folgen, der kann seine K;ndigung schreiben. Wer bereit ist, bekommt doppelt soviel wie jetzt und sp;ter das Dreifache. Die Operationskosten ;bernehme ich.“
Alle gingen schweigend auseinander.
Ich wartete die Folgen meiner Rede ab. In ein Irrenhaus einsperren k;nnen sie mich nicht, denn ich habe vorsorglich die Schl;sselmomente der  Gesch;ftsf;hrung noch mehr geheim gehalten. K;ndigen wollen sie nicht, denn nirgends zahlt man Mitarbeitern ihrer Qualifikation und ihres Ranges soviel wie hier.
Ein paar Tage sp;ter kam eine Delegation niedergeschlagener Untergebener zu mir.  Die Parlament;re – so musste man sie wohl nennen - sahen verwirrt und fast bemitleidenswert aus. Wo war ihre ;berlegenheit ;ber mich hin!
„Wir verstehen, dass Sie ein Ungl;ck ereilt hat“, begann einer von ihnen.
„Ein Ungl;ck?“, fragte ich fr;hlich. „Wieso meinen Sie das?“
Verwirrt tauschten sie Blicke.
„Im Gegenteil“, fuhr ich fort. „Noch nie konnte ich so intensiv arbeiten. Und in meinem Leben hat sich nichts ge;ndert! Sie verbringen doch auch zehn Stunden am Computer, oder etwa nicht? Na, und die unwichtigen Glieder“, hier zwinkerte ich ihnen fr;hlich zu, „die ich nicht mehr habe, ersetzt mir das Internet. Sex?“, mit den Augen wies ich auf den Helm, den mir der Kammerdiener aufsetzt. „Virtuellen Sex k;nnen auch sie haben, und bei neuen, sehr hohen Einnahmen k;nnen Sie auch teurere Pornoseiten besuchen. F;r den Zugang werden Sie mit virtuellem Geld bezahlen. Ihr Leben wird sich im Grunde nicht ;ndern, Sie werden nur viel reicher sein. Sie werden ein Luxushaus in meiner N;he haben. Schlie;lich werden Sie soviel Geld haben, dass Sie sich in Zukunft einen Klon anschaffen und vielleicht Ihr Gehirn in seinen K;rper verpflanzen k;nnen!
Das ist allerdings Zukunftsmusik, und ich wei; nicht, welche gesetzlichen Beschr;nkungen es geben wird. Das kann ich Ihnen nicht garantieren. Alles andere aber wird vertraglich vereinbart. Im ;brigen bin ich ersch;pft, ich will Sie nicht ;berreden. Sie sind erwachsene Leute, entscheiden Sie selbst. Ich gebe Ihnen noch eine Woche f;r die Entscheidung. Keinen Tag l;nger.“
Und was meinen Sie? Ja, der gr;;te Teil des Personals k;ndigte auf eigenen Wunsch. Aber zwanzig Leute erkl;rten sich zu der Operation bereit.

...Jetzt werden in unsere Stadt der intellektuellen Kuben die Touristen gebracht (wir haben ;brigens dadurch ganz gute Einnahmen). Zweimal in der Woche d;rfen sie zwischen den Luxusvillen hindurchfahren und in die gro;en Fenster schauen.
Dort erblicken sie immer dasselbe Bild: In einem gro;en Raum leuchtet blau der Bildschirm eines Computers. Davor steht auf einem gro;en gl;sernen Kubus ein unbeweglicher Kopf.
Sein Blick ist auf den Bildschirm gerichtet.
 
SUCHE MANN

Lionella sa; am Tisch, seufzte schwer und zerbrach sich den Kopf ;ber den Text f;r eine Annonce in der Zeitung unter der Rubrik „Suche Mann“.
„Liebe Mami“, sagte sie. „Ja fr;her, in alten Zeiten, da haben die Eltern die T;chter selbst verheiratet. Hatten die es gut! Jetzt muss man alles selbst machen...“
„Finde zuerst einmal heraus, was die M;nner wollen. Dementsprechend setzt du dann die Annonce auf“, empfahl die Mama, ohne den Blick von ihrer Besch;ftigung zu wenden.
„Was ich f;r eine kluge Mama habe“, dachte Lionella wieder einmal und sah sie ger;hrt an.
Die Mama war offensichtlich verstimmt, weil die f;nfte Schachaufgabe, die sie l;sen wollte, sich als eine h;rtere Nuss erwies als die vier vorherigen. Finster schaute sie auf das Schachbrett. Zwischen ihren Z;hnen steckte eine erloschene Pfeife.
Lionella fuhr in die Bibliothek und widmete mehrere Tage dem Studium von Heiratsanzeigen in den Zeitungen.
„Na, was f;r Frauen suchen die M;nner, die danach d;rsten, Ehebande zu schlie;en?“, fragte die Mama, ohne von dem Kreuzwortr;tsel aufzusehen, das sie gerade l;ste.
„Wei;t du, Mamilein... Manche wollen schlanke, andere schreiben, dass ;ppige Formen erw;nscht seien, und einer hat geschrieben, dass ‚alles an ihr dran sein soll’. Ich kann mir nicht vorstellen, wie man das alles in eine Annonce bringen soll.“
„Gib doch zwei auf. Oder drei. Sie kosten doch nichts.“
Die Mama legte das Kreuzwortr;tsel beiseite und sah ihre Tochter jetzt besorgt an.
Lionella sa; auf der Stuhlkante, blickte sie ehrfurchtsvoll an, hatte die spitzen Knie zusammengeschoben und knautschte ein schneewei;en Spitzentaschentuch in ihren H;nden. Sie trug ein  dunkelblaues Kleid mit wei;em Kragen und Manschetten.
„Aber... liebe Mami... Wie geht denn das? Dann kommt raus, dass ich gleichzeitig... fast nichts habe...  und alles an mir dran ist?“
„Tu, was ich dir sage, und sp;testens in einem Monat fangen wir einen Br;utigam ein. Und vergiss nicht, unsere Telefonnummer anzugeben. Schreiben ist viel schwieriger als anzurufen....“
„Aber Mami! Das macht keiner so... Alle schreiben postlagernd. Tallinn ist eine kleine Stadt... Alle Bekannten werden es erfahren!“
„Sie werden es sowieso erfahren. Du wirst doch bald heiraten!
„Und wenn mich niemand heiratet? Ich sterbe vor Scham...“
„H;r auf herumzustreiten und tu, was ich gesagt habe.“
Eine Woche sp;ter, als beide Annoncen erschienen waren, begann das Telefon fast ununterbrochen zu klingeln.
Als Lionella aber die erste ihr unbekannte m;nnliche Stimme vernahm, legte sie sofort wieder auf und wagte sich nicht, den H;rer wieder abzunehmen.
„Was ist los?“, fragte die Mama. „Warum sitzt du neben dem Telefon, starrst es an und zitterst wie Espenlaub?“
„Ich wei; nicht“, sagte Lionella und hatte den Blick gesenkt.
„Du machst wohl Witze? Willst du wirklich heiraten?“ fragte die Mama und setzte die Brille auf, um ihr Kind genauer zu betrachten. Sie schob sogar f;r einen Augenblick das Schachbrett beiseite. „Sag mal, wie bist du nur auf diese seltsame Idee gekommen?“
„Ich will“, bekannte Lionelle und blickte sie traurig an. „Ich will auch eine Tochter haben.“
Die Mama seufzte schwer und begann die Pfeife neu mit Tabak zu stopfen, wobei sie Lionella besorgt durch die Brille betrachtete und die Stirn runzelte wegen des fast ununterbrochenen Telefonklingelns. „Dazu muss man doch nicht unbedingt heiraten“, sagte sie. „Wozu diese B;rde? Sei ein artiges Kind, mach es wie ich. Schaff dir ein Kind aus dem Reagenzglas an.“
„Aber Mami, du  hast doch selbst gesagt, dass die In-Vitro-Kinder qualitativ nicht so gut gelingen“, wunderte sich Lionella.
„Was stimmt, das stimmt. Obwohl ich die beste Firma ausgesucht hatte, aber...“
Entweder war die Wissenschaft auf dem Gebiet noch nicht so weit oder jemand hatte durch Beziehungen seine Gene untergemogelt, dachte die Mama bei sich. Sie nahm einen tiefen Zug, blies eine Rauchwolke aus und betrachte Lionella durch diesen Rauchschleier kritisch. Die wurde rot und lie; das zusammengekn;llte Taschentuch auf den Boden fallen.
„Na gut. Ich werde selbst ans Telefon gehen. Sag, was willst du f;r einen Mann“, seufzte die Mama
„Du wei;t es besser“, fl;sterte Lionella.
Offensichtlich wirklich durch Beziehungen, dachte die Mama finster und nahm den H;rer ab.
„Ja bitte“, sagte sie mit zarter Stimme, die genau wie die von Lionella klang. „Ja, ich habe eine Annonce aufgegeben. Wie ich bin? Ich bin... subtil, backe gern Piroggen, die gelingen mir sehr gut, besonders die mit Fleisch... Ach so? Sie m;gen Piroggen sehr? Ich soll erkl;ren, was ‚subtil’ bedeutet?... Entschuldigen Sie, ich habe schon gemerkt, dass Sie ein  guter Mensch sind, aber Sie passen nicht zu mir.“
Sie legte entschlossen auf.
„Mami!“, schrie Lionella auf. „Wir haben ihn doch noch gar nicht von Angesicht gesehen!“
„Entschuldige, wozu brauche ich einen Schwiegersohn und du einen Mann, der uns nichts nutzt?“
Sie machte die Pfeife aus und zog die Boxhandschuhe an, um im Nebenzimmer eine halbe Stunde zu trainieren.
„Aber Mami! Wie hast du das so schnell herausgefunden?“
„Er wei; nicht, was ‚subtil’ bedeutet“, antwortete die Mama und entschwand  im Nebenzimmer, aus dem bald dumpfe St;;e zu h;ren waren.

...Genau einen Monat sp;ter stand die Mama im Wind an der Haust;r und schaute dem Auto nach, in dem Lionella und ihr Mann auf Hochzeitsreise davonfuhren.
Der Schwiegersohn ist eigentlich nicht schlecht, dachte sie. Zwei Kreuzwortr;tsel hat er auf Anhieb gel;st. Lionella ist aber trotzdem hoffungslos altmodisch... Die Mama seufzte schwer. Da kann man nichts machen – wann h;ren Kinder schon auf ihre Eltern...
 
MEINE ;BERM;TIGE MAUS

Zuerst habe ich nichts Besonderes an ihr bemerkt. Sie verhielt sich ganz berechenbar.
Etwa ein Jahr sp;ter fiel mir etwas Seltsames auf. Ich w;rde das als beschleunigte Reaktion bezeichnen – ich brauchte blo; zu ;berlegen, wohin ich den Cursor bewegen wollte, so geschah das auch schon einen Augenblick, bevor ich klicken wollte... Oder kam es mir nur so vor? Man darf wahrscheinlich doch nicht so lange vor dem Bildschirm sitzen, sondern muss sich auch manchmal ausruhen.
Ich gewann den seltsamen Eindruck, dass sie manchmal, wie soll ich es genauer ausdr;cken..., meine Absichten ahnte.
Eines nachts  konnte ich lange nicht einschlafen, stand schlie;lich auf und setzte mich an den Computer.
Gerade wollte ich die erforderliche Datei ;ffnen, da ;ffnete sie sich schon eilfertig von selbst. Ich kann schw;ren, dass ich noch nicht geschafft hatte, sie anzuklicken... Ich warf einen strengen Blick auf die Maus. Eine ganz normale billige Computermaus. Hellgrau.
„Maus“, sagte ich zu ihr. „Treibst du hier Unfug? Gib es zu.“
Da war ich aber an die Falsche geraten. Sie lag weiter ganz unschuldig vor mir auf dem Schreibtisch und gab kein Lebenszeichen von sich. Die Tischlampe beleuchtete sie hell.
„H;r mal“, sagte ich zu ihr f;r alle F;lle (damit sie nicht sonst was denkt). „Ich wei; alles. Wen willst du hier f;r dumm verkaufen? Zwinkere wenigsten mal...“
Und Sie werden es nicht glauben – sofort fing auf dem Bildschirm alles an zu blinkern und zu wackeln... Ich zuckte auch zusammen... Kurz darauf begriff ich, dass die Verbindung zum Internet hergestellt worden war – in dem Moment flackert immer alles auf dem Bildschirm...
Wieder sah ich die Maus streng an und sagte:
„So habe ich dir also vertraut.“
Moment mal. Wann hatte ich die Internetverbindung angeklickt? Ich hatte nicht... Oder hatte ich?
„Also, meine Liebe“, sagte ich laut und mir wurde unheimlich vom Klang meiner eigenen Stimme, die seltsam in der n;chtlichen Stille klang. „Du kannst ja machen, was du willst, ich gehe schlafen. Ich muss auch ausschlafen, nicht nur arbeiten.
In diesem Augenblick ging der Bildschirm aus und auch die Tischlampe... Ich stand v;llig im Dunkeln.
„Was soll’s“, sagte ich nach einer Weile. Aus irgend einem Grunde  - laut. Es ist einfach der Strom abgeschaltet worden... Oder die Sicherungen sind durchgebrannt.
Ich tastete mich zum Bett vor und legte mich hin.
Na so was... So ;berm;det zu sein, dachte ich. Schlie;lich unterhalte ich mich ernsthaft mit ihr... Erstaunlich, was es so f;r ;bereinstimmungen gibt... Ich ihr ...und sie mir... Die Sicherungen sind durchgebrannt... die Sicherungen.
Ich wurde von einem seltsamen Gef;hl wach. Als ob mit etwas Flauschigem ;ber mein Gesicht gestrichen worden war.
Ich schlug die Augen auf. In der Dunkelheit waren die Umrisse der M;bel und des Computers auf dem Tisch beinahe schwarz.
Was konnte das gewesen sein? Als ob ... eine Maus ;bers Gesicht gelaufen war. Beinahe w;re ich, wie von der Tarantel gestochen, aufgesprungen bei dem Gedanken – eine Maus! Hier im achten Stock??? Was war es dann? Ich streckte die Hand aus und knipste an dem Schalter. Das Licht ging an. Also waren es nicht die Sicherungen... der Strom war einfach weg.
Ich blieb liegen und war krampfhaft bem;ht, nicht zum Schreibtisch hinzusehen. In ihre Richtung (damit sie sich nichts einbildete). Trotzdem hielt ich es nicht aus und schielte nach einer Weile vorsichtig dort hin...
Oh Schreck! – die Maus war nicht auf dem Tisch!
„Schon gut, sie ist von hier aus einfach nicht zu sehen“, sagte ich mir. Aber nicht laut (damit sie sich nichts einbildete).
Ich musste aufstehen und zum Tisch gehen.
Ich entdeckte sie hinter der Tastatur und atmete erleichtert auf.
Moment mal... Wie ist sie denn da hingekommen? Vor allem – warum? Ich lege sie nie dort hin, sie liegt wie bei allen vor der Tastatur.
„H;r zu“, sagte ich und legte sie an ihren Platz. „H;r zu, Maus, wir einigen uns. Ich bin ein Mensch, du bist eine Maus. Nat;rlich wird es uns schwer fallen, eine gemeinsame Sprache zu finden, einander zu verstehen...“
Da fiel mir ein, dass sie mich sogar sehr gut versteht. W;nsche erahnen, das kann l;ngst nicht jeder Mensch.
Ich bin es, der sie schlecht versteht...
„Versteh mich doch, Maus“, sagte ich, nachdem ich etwas nachgedacht hatte. „Glaub nicht... Ich sch;tze dich, deine F;higkeiten, deine Diensteifrigkeit. Ich bin sogar bereit zuzugeben, dass du in manchem kl;ger bist als ich, obwohl ich ein Mensch bin und du nur eine Maus... Zwar eine Computermaus, aber eine Maus... Was meinst du, was ich jetzt am meisten m;chte, na? Richtig – ich m;chte schlafen. Warum l;sst du mich also nicht einschlafen?“
Sie lag weiter unschuldig vor mir auf dem Tisch im Lampenlicht.
Ich seufzte, setzte mich an den Tisch  und schaltete den Computer ein. Immer noch dieselbe Datei ;ffnete sich, ehe ich sie angeklickt hatte. Mechanisch las ich die Bemerkung unter der ;berschrift: am 2. August dem Redakteur abliefern. Ist noch Zeit, dachte ich, morgen ist der erste... Pl;tzlich r;ckte in der rechten unteren Ecke der Pfeil auf die Zeit, und Tag und Datum leuchteten auf: Saturday, August 03...
...H;r mal, Maus, stell dich nicht taub. Was meinst du, kann ich immer alles und alle richtig verstehen? Ich bin doch schlie;lich nur ein Mensch...
 
WAS HAST DU ANGERICHTET, KRANDY?

Ich pfeife auf die Ungerechtigkeit der Menschenmenge, die vor meinem Fenster Meetings veranstaltet, aber der Krach geht mir so auf die Nerven!
Ich bin unschuldig. Der technische Fortschritt ist eine objektive Erscheinung.
Sehen Sie sich nur einmal ihre Losungen an: „Du hast die M;glichkeit, die frische Luft auf den Kanaren zu atmen. Wir nicht!“
Ignoranten, woher wisst ihr, dass auf den Kanaren die Luft sauber ist? Dort kommen auf den Quadratkilometer beinahe so viele Autos wie in Tokio.
Ich habe es nicht leichter als sie! Dieser Tage hat meine Limousine f;nf Stunden im Stau gestanden. Ich musste die Beratung mit dem Handy direkt aus dem Auto heraus f;hren, mit zunehmenden Kopfschmerzen. Danach wurde mein Fahrer ins Krankenhaus gebracht – akute Vergiftung durch Abgase.
Und trotzdem, warum soll ich die Automobilproduktion reduzieren, wenn die Autos gekauft werden?
Seit dieses junge Genie (anders l;sst es sich nicht bezeichnen) Krandy (also Namen haben die jungen Leute heute!) bei mir arbeitet, haben wir die Konkurrenz ;berholt. Jetzt kauft sie meine neuen Modelle, nimmt sie auseinander und versucht uns nachzuahmen. In der Zeit schafft es der lustige Krandy (der Junge macht wirklich gern Sp;;e), etwas Neues zu erfinden.
Zum Beispiel das letzte bezaubernde Ding – einen Feuerzeug-Aschenbecher, der durch den Innenraum des Autos fliegt, auf die Stimme des Fahrers reagiert, die Zahl der  gerauchten Zigaretten z;hlt  und einen Trauermarsch spielt.
Ja, wir schreiten mit riesigen Schritten voran, die Konkurrenz holt uns nicht ein. Trotzdem, nicht mehr lange und wir werden alle an den Abgasen ersticken.
Ich bat Krandy zu mir. Es war sp;t abends. Der Junge ist gro;artig, er macht wie ich ;berstunden und bleibt manchmal bis weit nach Mitternacht im B;ro.
„Die Situation ist beklagenswert“, sagte ich. „ich sehe keinen Ausweg.“
„Vielleicht sollten wir wirklich die Produktion drosseln, Chef?“, fragte er und setzte sich mir gegen;ber an den Tisch. Wie immer mit in sich gekehrtem Blick. Es macht ihm nichts aus, zwei Dinge gleichzeitig zu tun, mir zuzuh;ren und in Gedanken eine neue Konstruktion der Kardanwelle zu entwickeln.
„Das ist kein Ausweg aus der Situation. Wir reduzieren und die Konkurrenz erh;ht. Man muss sich etwas Neues einfallen lassen. Ehrlich gesagt, Krandy (woher haben sie nur diese Namen, etwa aus Amerika?), ich habe es satt. Ich habe keinen Anreiz mehr, diese Luft zu atmen. Weder das Geld noch die Menschen interessieren mich noch. ;ber die Menschen wei; ich alles. Und Geld habe ich... es ist zu einer Abstraktion, zu einer Ziffer auf dem Papier geworden. Nun gut, ich k;nnte noch ein paar Wolkenkratzer bauen und die Tallinner Denkmalschutzbeh;rde w;rde mich beschimpfen... Mich bewegt das schon nicht mehr, wie du dich auszudr;cken pflegst, Krandy.“
„Na nu-u“, sagte er gedehnt, voller Verwunderung. „Sie haben doch immer gesagt, dass es viel Geld nicht gibt.“
„Pfeif darauf, was die Leute reden, Kleiner. Sieh hin, was sie tun. Und ich werde folgendes machen. Ich entschwinde in eine tiefe Anabiose, mein Lieber. F;r etwa vierzig Jahre.“
„Das ;berlebe ich nicht“, sagte er traurig.
In dem Augenblick war er ganz hier bei mir. Ich habe es gesehen, sein Blick wurde sehr betr;bt.
„Das sind Worte... Worte. Du wirst es ;berleben. Sei nicht traurig, ich komme wieder. Na gut, ein bisschen fr;her – in... drei;ig Jahren. Ich will dich noch lebend antreffen. Und das Auto der Zukunft sehen. Wenn ich daran denke, merke ich, das mein Interesse am Leben noch nicht ganz erloschen ist. Aber dieses Geschrei vor dem Fenster ist nicht auszuhalten...  Ich setze sehr auf dich. Auf deinen Erfinderverstand.“
Ich rief den Feuerzeug-Aschenbecher, er kam angeflogen, teilte mit, dass das heute schon die zwanzigste Zigarette sei, und schickte sich an, flott den Trauermarsch zu spielen, was angesichts meiner Entscheidung durchaus angebracht war.
Ich setzte einen Vertrag auf, der meine Sicherheit und die Sicherheit meines Kapitals garantierte, und verpflichtete die Vollstrecker meines Willens, mich Schlafenden nicht irgendwohin aus den W;nden des B;ros wegzutragen und genau an derselben Stelle in drei;ig Jahren zu wecken. Ich wollte meinen Untergebenen absichtlich ein Dorn im Auge sein, damit sie in ihren Anstrengungen nicht nachlie;en.
Welchen eleganten Ausweg aus der Situation mag Krandy wohl finden?
Ich war bereit, hundert zu eins zu wetten, dass das Auto der Zukunft zigarettenf;rmig aussehen  und die Energie aus der Luft gewinnen wird, also – und das ist fast dasselbe – aus den Abgasen. Ich habe das sch;ne Ding sogar schon mehrfach im Traum gesehen, eine gewisse Mischung aus Mercedes, Rolls Roys und Ferrari. Oh, der Rolls Roys! Er gef;llt mir sogar besser als der Jaguar.
Ich verabschiedete mich von den traurigen Verwandten, die durchaus nicht meinem Beispiel folgen wollten, und deshalb kann man wohl mit gro;er Wahrscheinlichkeit sagen, dass ich sie dann schon nicht mehr lebend antreffen werde. Was soll’s. Ich hatte im Leben ein Ziel, sie aber wollten einfach ruhig die Zeit verleben, die ihnen zugebilligt war.
F;r Krandy stellte ich ;rzte ein, damit ihm in den drei;ig Jahren nichts passierte.

... Ich erwachte, umgeben von Menschen in wei;en Kitteln, unter denen ich den Arzt wiedererkannte, der mich eingeschl;fert hatte, sowie einige meiner Untergebenen, die merklich gealtert waren. Da stand auch Krandy, mannbar geworden und schon alternd, aber imposant und mit einem strahlenden L;cheln.
„Chef!“, rief er. „Ich hatte solche Sehnsucht nach Ihnen! Wie f;hlen Sie sich?“
„Ausgezeichnet“, antwortete ich mit einer f;r mich unerwartet leisen und schwachen  Stimme und versuchte aufzustehen, konnte es aber nicht, denn vom langen Schlafen waren meine Muskeln eingetrocknet. „Wie laufen die Gesch;fte?“
Krandy dr;ckte die Fernbedienung, mein Bett wurde zu einem bequemen Sessel, in dem ich, umringt von einer gro;en Menschenmenge, wie ein Geburtstagskind sa;.
„Na, mein Lieber, ist die Luft jetzt sauber?“, fragte ich, nachdem ich einen Vitamincocktail getrunken hatte.
„Kristallklar!“
Krandy schob meinen Sessel an das gro;e Panoramafenster des B;ros, von wo man einen wundervollen Blick auf die Stadt und die Bucht hat.
Ein paar neue Hochh;user...In der Ferne auf der Reede der Tallinner Bucht lagen fr;her oft ein, zwei gro;e Passagierschiffe mit vielen Decks der Gesellschaft „Silja Line“, jetzt lagen keine da. In der Ferne ;ber dem Meer flog ein Vogelschwarm, zum Dreieck formiert, gef;hrt von einem Anf;hrer, in w;rmere Gefilde... Herbst... Ja, das Leben war auch ohne mich weitergegangen... Tja, was ist schon ein Mensch... Eine Stadt hingegen besteht ewig. Das Meer auch.
„Also gut, Krandy, Tallinn steht, wie ich sehe, nach wie vor an derselben Stelle, seine Silhouette hat sich in den letzten drei;ig Jahren fast nicht ver;ndert, woraus ich den Schluss ziehe, dass es zum Beispiel keinen Atomkrieg gegeben hat. Ich w;rde aber gern das Auto sehen, das du entwickelt hast.“
„Das zeige ich  Ihnen ja gerade, Chef! Sehen Sie die Touristengruppe da, die sich auf den Weg nach Helsinki macht? Sehen Sie, wie sie sich zum Dreieck gruppiert hat und dem Reiseleiter folgt?“
Erschreckt starrte ich das ergrauende Genie an.
„Ich habe einen Raumanzug mit Gleitst;ck entwickelt, das Funktionsprinzip ist das Magnetfeld, das zu erkl;ren dauert zu lange... Diese Raumanz;ge haben die Autos verdr;ngt. Und die Luft ist sauber und die Einsparung ist enorm – man braucht keine Aufz;ge, Rolltreppen, Parkpl;tze, Schiffe, Flugzeuge... Die Menschen ziehen einfach die Raumanz;ge an, fliegen aus dem Fenster hinaus und kommen zur;ck geflogen... Aus dem Stadium des Ameisenhaufens ist die Menschheit in das Stadium des Bienenstocks ;bergegangen“, sagte er abschlie;end stolz. „Sie sind jetzt Multimilliard;r, Chef. Ich bin auch nicht arm.“
Nerv;s pfiff ich, um den Aschenbecher herbeizurufen. Er kam aber nicht.
„Jetzt raucht schon keiner mehr“, sagte einer der ;rzte. „Die Luft ist so sauber, es t;te einem leid sie zu verschmutzen.“
„Krandy, was hast du angerichtet? Wo sind die Autos? Wo sind meine Sch;nen? Oje... Was ist denn da los? Ich h;re L;rm von der Stra;e!“
„Das ist nicht meine Schuld“, antwortete Krandy leise, den Blick gesenkt. „Der technische Fortschritt ist eine objektive Erscheinung. Da protestieren diejenigen, die von unserem Konzern in den Ruin getrieben wurden.
 
DIE KRAFT DES KOMPLIMENTES

Viele negative Emotionen hatten sich angesammelt.
Und durch den Fernseher wurden es immer mehr
Flugzeuge st;rzten ab. Banken krachten. Auftragsm;rder mordeten. Gauner betrogen alle.
Das Forschungsinstitut, in dem wir arbeiteten, war kurz vor dem Aus. Es war klar, dass seine Tage gez;hlt waren.
Die ;bergangsphase des Landes erinnerte an die ;bergangsphase im Leben eines Menschen – man wei; nicht, was er morgen anstellt.
Den Stress musste man irgendwie abbauen. Wir, die wissenschaftlichen Mitarbeiter des Instituts, vom Fach her Psychologen, wussten, dass man das Negative durch etwas Positives ausgleichen musste.
So haben wir also verabredet, uns jede Woche zu treffen. Wir nehmen uns genau eine Stunde, um einander Komplimente zu machen. Jeder von uns sollte den anderen etwas Angenehmes sagen, was sie dann w;hrend der gesamten Arbeitswoche befl;geln w;rde.
Dass wir unsere Ehefrauen mitgenommen haben, erwies sich als gro;er Fehler. Zumindest f;r mich...
Pille wollte auch gar nicht mitkommen. Sie befahl mir, den M;lleimer hinauszubringen und den Teppich zu klopfen. Erst nachdem ich alle ihre Auftr;ge erf;llt hatte, konnte ich sie ;berreden.
„M;nner sind auch ohne Komplimente zu sehr von sich selbst ;berzeugt“, schimpfte sie die ganze Zeit unterwegs.
Als alle da waren, wurde eine Kerze angez;ndet, das Licht ausgemacht und leise entspannende Musik aufgelegt.
„Juri ist flei;ig“, sagte Mati.
„Er ist ein wahrer Freund“, sagte Endel.
Sulew schickte sich lange an, etwas zu sagen, nickte aber schlie;lich nur wohlwollend und vieldeutig mit dem Kopf.
„Juri ist ein sehr bezaubernder Mensch“, ;bersetzte mein Frau Pille Sulews Mimik ins Estnische.
Kann sie etwa seine Gedanken lesen, wunderte ich mich.
„Juri ist ehrgeizig“, sagte Janika.
„Er spielt ausgezeichnet Basketball“, sagte ich.
„Ein richtiger Macho“, sagte K;llike.
„Also, Freunde, wisst ihr, das ist schon zuviel des Guten“, murmelte Juri geschmeichelt.
„Juri ist vor allem ein Gentleman“, sagte Annika.
„Was redet ihr da?“, rief pl;tzlich Juris Frau Viivika aus, die, je weiter es ging, mit immer saurerer Miene  die an ihren Mann gerichteten Komplimente anh;rte.
„Wirklich, er ist ein Gentleman und...und... sieht genauso aus wie Antonio Banderas!“, lies Annika nicht nach.
Juri wurde rot und begann auf dem Stuhl hin und her zu rutschen.
„Vielleicht setzt sich jetzt jemand anderes auf meinen Stuhl?“, fragte er.
Aber noch hatten Avro und Martin, Malle, Silvi und Ene ihre Meinung nicht gesagt.
Juri erfuhr, dass er klug sei, dass er ein gutes Herz, sch;ne Augen und seine Stimme einen angenehmen Klang habe.
Den Schlusspunkt setzte Annika:
„Er k;nnte durchaus Pr;sident der Republik werden.“
Im Raum herrschte Stille. Die Anwesenden betrachteten Juri aufmerksam. Die Flamme der Kerze zuckte, Licht und Schatten spielten auf seinem Gesicht. Einen Schatten von Verlegenheit bemerkte ich da aber nicht. Er h;tte zumindest dem Anschein nach protestieren k;nnen...
Als n;chster setzte sich Endel auf den Ehrenplatz.
Ein mutiger Mensch... Ein guter Sportler, ein treffsicherer Sch;tze... Energisch... Furchtlos...
Diesmal zog die Frau von Juri, Viivika, den Schlussstrich.
„Er k;nnte durchaus ein Auftragsm;rder werden.“
„Und das ist deiner Meinung nach ein Kompliment?“, schrie Juri auf.
„Was sonst! In unserer jetzigen Zeit... Nat;rlich ein Kompliment“, rechtfertigte sich Viivika.
Alle starrten Endel an. Er schien nicht beleidigt. F;r einen Augenblick wurde uns sogar etwas unheimlich, denn ;ber sein Gesicht huschte ein irgendwie b;sartiges L;cheln.
Der n;chst war Mati.
Geistreich... Sparsam... Gescheit... Flei;ig...
Den Schlusspunkt setzte Ene.
„Also, er k;nnte durchaus Bankpr;sident werden.“
Mati schwieg bescheiden, entgegnete nichts. Auf seinem Gesicht erschien ein irgendwie vertr;umter Ausdruck.
Als n;chster setzte sich Sulew auf den Stuhl.
Klug... Gutm;tig... Und wie er die Zunge im Zaum halten kann!...
Die Zusammenfassung kam diesmal von meiner besseren H;lfte.
„Er k;nnte durchaus ein Genie werden!“, erkl;rte Pille.
„Zum Teufel noch mal, als Genie wird man geboren, ein Genie wird man nicht!“, platzte ich heraus.
„Also ist er schon ein Genie“, erkl;rte sie ohne mit der Wimper zu zucken.
Als n;chster sollte ich an der Reihe sein. Doch die Stunde, die f;r die Komplimente gedacht war, war vor;ber.
Sehr schweigsam und nachdenklich gingen wir alle nach Hause. Aus irgendeinem Grund fanden wir auch sp;ter keine Zeit mehr, um dieses Vorhaben fortzusetzen....

Seit dem ist viel Wasser den Berg hinabgeflossen. In dieser Zeit hat sich Juri von Viivika scheiden lassen und ist jetzt mit Annika verheiratet.
Und seine Frau Viivika hat Endel geheiratet. Sie ist sehr stolz auf ihren neuen Mann, obwohl ;ber Endel allerlei b;se Ger;chte im Umlauf sind. Angeblich hat er mit einem pr;zisen Schuss durch die Fensterscheibe einen bekannten Tallinner Gesch;ftsmann umgebracht, als der in seiner K;che Abendbrot a;. Ich glaube das nicht ganz, denn es wurden bisher noch keine Beweise gegen ihn gefunden.
Pille hat mich verlassen und ist zu Sulew gegangen. Sie hat sich in ihm nicht geirrt, seine Genialit;t ist jetzt urkundlich best;tigt. Und zwar ist seine Leistung ins Guinnessbuch der Rekorde eingegangen. Diesen Rekord in Wortkargheit konnte noch niemand brechen. Er hat in den vergangenen drei Jahren nur zehn W;rter gesagt. Das ist nicht verwunderlich, denn Pille spricht f;r ihn.
Mati ist mit Ene verheiratet. Sie hat sich auch nicht in ihm get;uscht. Mati ist jetzt Pr;sident einer Gesch;ftsbank. Entweder „Kedit-plus“ oder „Kredit-minus“...
Aber Juri, unser Juri!... Mein alter Schwarz-Wei;-Fernseher hat ein schlechtes Bild, doch Juri selbst und die Gattin des Pr;sidenten der Republik Annika werden so oft gezeigt, dass sogar ich jetzt sehe, dass Juri wirklich entfernte ;hnlichkeit mit Antonio Banderas hat....

In den schlaflosen N;chten denke ich immerzu dar;ber nach, welch m;chtige Figur aus mir geworden w;re, wenn auch ich an die Reihe gekommen w;re und die Kollegen und ihre Frauen mich mit Komplimenten ;berh;uft h;tten.
Und ich... Ich bin jetzt eine von den verd;chtigen Pers;nlichkeiten, vom Volksmund Geologen genannt, die erschrocken von den M;llcontainern wegspringen, wenn Sie zuf;llig in einen der Tallinner Torb;gen einbiegen.
 
DAS HAUS

Der Hauherr sieht aus dem Fenster, er hat sich mit den Ellenbogen auf das Fensterbrett gest;tzt und unterh;lt sich mit Ihnen.
Er l;chelt, ist ernst, manchmal weint er.
So ein Haus hat er also, denken Sie.
Das Haus hat viele Zimmer.
Manche mag der Hausherr, in manche sieht er nicht gern hinein.
Ihm Nahestehende l;sst er in die Diele.
So ein Haus hat er also wirklich, denken sie.
Sie sind geschmeichelt.
Ihm sehr Nahestehende l;sst er, je nach Stimmung, in das erste Vorderzimmer, bedauert es jedoch sofort.
Man darf niemanden weiter als bis in die Diele lassen, denkt er.
Niemanden, der schmutzige Schuhe hat.
Ob schmutz;ge Schuhe oder saubere l;sst sich nicht feststellen.
Er ist blind. In jeder Hinsicht, was die Schuhe betrifft.
Das Haus hat einen Keller.
Der Keller ist verschlossen, dort liegen die Toten.
Der Hausherr hat den Keller ganz vergessen.
Doch nachts, wenn er schl;ft, werden die Toten wieder lebendig.
Sie stehen auf, brechen das Schloss auf und streifen durchs Haus.
Der Hausherr aber schl;ft ruhig.
Manchmal erinnert er sich morgens verschwommen an die Toten, doch er vergisst sie sofort.
Sein ganzes Leben lebt er ganz allein in diesem Haus.
Manchmal macht er das Fenster auf, st;tzt sich mit den Ellenbogen auf das Fensterbrett und unterh;lt sich mit Vor;bergehenden.
Alle Leute sind Vor;bergehende, das ist doch schrecklich, denkt er.
Selbst wenn sie versuchen, dein Haus zu betreten.
Selbst wenn ich sie sehr gern hereinlassen m;chte.
Sie haben auch ein Haus, jeder sein eigenes.
Wie geht es ihnen dort?
Das l;st sich nicht feststellen.
Sie lassen einen nicht weiter als bis in die Diele.
Dar;ber sollte man aber lieber nicht nachdenken.
Er macht das Fenster auf, st;tzt sich mit den Ellenbogen auf das Fensterbrett.
Manchmal lacht er, manchmal ist er ernst, manchmal weint er.
 
DER DUFT DES  MARZIPANS

Ich hatte ein recht ehrw;rdiges Alter erreicht, als ich mich schlie;lich entschloss, in meine Heimatstadt zur;ckzukehren.
H;tte ich mir denn in der Jugend vorstellen k;nnen, dass ich es bis in ein so hohes Alter schaffe?
Als ich zuf;llig im Spiegel mein Abbild erblickte, zuckte ich zusammen, denn f;r den Bruchteil einer Sekunde schien mir, dass ein d;nner alter Mann mit faltigem Gesicht und tiefliegenden entz;ndeten Augen sich heimlich hinter meinem R;cken verbarg. Ich hatte keinen Zweifel, dass ich alle meine Altersgenossen, Klassenkameraden, Nachbarn und andere Bekannte ;berlebt hatte.
Ist nicht eigentlich ganz egal, wo man den Tod erwartet? Manchmal zwingt er einen jedoch zulange zu warten. Schlie;lich ist das Alter an sich nichts Schlechtes. Das, was uns in der Jugend furchtbar scheint, die Falten und das gebrechliche ;u;ere, ist unbedeutend. Man sieht sich doch selbst nicht mit den Augen anderer und im Innern ist man f;hig, sich in die Kindheit, die Jugend und die reifen Jahre zu versetzen und immer ist man einfach man selbst und nicht  ein Junge oder ein alter Mann.
Das Schrecklichste ist etwas anderes, n;mlich das, was man sich in der Jugend nicht vorstellen kann, dass alle, die man geliebt hat, einen verlassen haben. Darin besteht die eigentliche Trag;die des Alters. Kluge Menschen begreifen bereits in der Jugend, wie wichtig es ist, sich im Alter mit denen zu umgeben, die man, schlitzohrig wie man ist, im Innersten kichernd und sich ;u;erlich ungl;cklich gebend, eher verl;sst als sie es schaffen, einen zu verlassen.
Jetzt begreife ich, dass ich als junger Mensch leichtsinnig war. Wenn wir uns in der Jugend eine Stadt aussuchen, denken wir nicht dar;ber nach, ob das der Ort ist, an dem wir im Alter wohnen wollen. So bin auch ich in der Gro;stadt geblieben, in die ich kam, um sie zu erobern. Sie ist mir aber geschickt entwischt. Jedes Mal, wenn ich den Eindruck hatte, dass ich sie endlich fest in der Hand habe und sie besiegt ist, hat sie pl;tzlich ihr Antlitz ver;ndert und ist mir doch entwischt.
In den Jahren, in denen ich in der Gro;stadt gelebt habe, bin ich ein anderer Mensch geworden und die Stadt ist eine andere Stadt geworden. Und paradox ist noch, dass ich sie als ein sechs Jahrzehnte (was ist schon ein Jahrzehnt? eine Kleinigkeit!) ;lterer Mensch verlie; als ich war, als ich hierher kam, und sie trennte sich als viel J;ngere von mir.
Die alten unsch;nen H;user waren abgerissen worden, ringsum entstanden moderne, sch;ne, wunderbare Einkaufszentren. Anstelle der unansehnlichen F;nfgeschosser wurden Hochh;user gebaut. Ich habe ihr gewisserma;en im wahrsten Sinne des Wortes meine Jugend gegeben. Nat;rlich nicht freiwillig. Sie hat sie mir gestohlen, in sich aufgesogen und wurde sch;ner.
Gro;st;dte sind heimt;ckische Wesen, die sich vor deinen Augen verwandeln k;nnen. Sie haben nicht die Geduld abzuwarten, bis man stirbt und es einem einerlei ist.
Meine Heimatstadt hat sich nicht ver;ndert. Nur ein wenig. Es wurde in diesen Jahren fast nichts abgerissen, sondern in Ordnung gebracht und es wurden ein  paar moderne Geb;ude gebaut. Alles ist so wie damals. Nat;rlich wurden mancherorts bauf;llige H;user weggenommen, doch trotzdem scheint es so, als sei alles, bis auf den letzten Pflasterstein, an seiner Stelle.
Das war eine Kleinstadt. Die gepflasterten Gassen in der Innenstadt, wo ich einst wohnte, waren so schmal, dass ein Entgegenkommender einen beim Vor;bergehen beinahe ber;hrte.
Irgendwo hoch oben war ein Streifen blauen Himmels, ansonsten Stra;en mit Kopfsteinpflaster und altert;mliche graue W;nde. W;nde... Die engen, sich windenden Gassen liefen auf kleine gepflasterte Pl;tze hinaus, die von den grauen W;nden der sich dicht aneinander dr;ngenden alten H;user umgeben waren.
Ich hatte ein sonderbares Gef;hl, als wenn ich zu mir selbst zur;ckgekehrt war. Und erstaunlicher Weise, aber vielleicht ist das durchaus nat;rlich, f;hlte ich mich j;nger, kr;ftiger. Schlie;lich war ich daran gew;hnt, in dieser Stadt jung zu sein.
Meine alte Wohnung, in der lange meine k;rzlich verstorbene Verwandte gewohnt hatte, war auch fast unver;ndert. Diese Verwandte neigte nicht zu Neuerungen. Der alte Eichenschrank mit den Schnitzereien und dem Spiegel, den ich von meinem Gro;vater geerbt hatte, stand noch an derselben Stelle. Nur ein Farbfernseher war im Zimmer hinzugekommen und in der winzigen K;che ein neuer K;hlschrank.
Am Tag, als ich angekommen war, ging ich, nachdem ich mich in der Stille der kleinen Wohnung, aus deren Fenster eine Ecke des Rathauses zu sehen war, erholt hatte, spazieren. Ich ging langsam durch die enge, sich windende Gasse. Es war sehr still. Ein einsamer Passant kam in dieser sp;ten Stunde um die Ecke gebogen. In meiner Jugend war sicher jeder zehnte Entgegenkommende in dieser Stadt ein Bekannter von mir. Jetzt hatte ich nicht die geringste Chance, einen Bekannten zu treffen – ich habe sie alle ;berlebt.
Trotzdem, jedes mal, wenn mir einer entgegen kam, starrte ich unabl;ssig in sein Gesicht in der vergeblichen und unvern;nftigen Hoffnung... Den Vor;bergehenden war es offensichtlich unangenehm und sie wollten, dass ich schnell vor;berging.
Ich sah ein, dass mein Blick unh;flich und aufdringlich war, doch als ich den n;chsten Passanten erblickte, konnte ich nicht an mich halten und bohrte meinen Blick in das fremde Gesicht.
Es d;mmerte, meine Schritte hallten auf dem Pflaster zwischen den Steinw;nden wider, als unerwartet die dunkle Gestalt eines Passanten um die Ecke bog, und ich strengte meine Augen an und versuchte in der Dunkelheit sein Gesicht zu erkennen. Pl;tzlich stockte mein Herz, ich sp;rte es eher als dass ich es sah: Das Gesicht dieses Menschen kannte ich. Ein Mann von etwa vierzig Jahren. Etwas korpulent, er sah aus wie ein erfolgreicher Mann. Ich kannte ihn, kannte ihn fast zu gut, er hie;... ich konnte mich einfach nicht an seinen Namen erinnern. Angespannt schaute ich in sein Gesicht, in seine Augen, und begriff pl;tzlich, dass in diesen Augen nicht das geringste Anzeichen davon war, dass er mich auch erkannt h;tte.
Er machte eine ungeduldige Handbewegung, sagte „Entschuldigung...“ und ging an mir vor;ber.
Ich drehte mich um, blickte ihm nach, sah auf seinen sich entfernenden R;cken, auch sein Gang kam mir bekannt vor. Und da fiel mir ein, wer er war und woher ich ihn kannte. Nur den Namen, der mir auf der Zunge lag, habe ich vergessen.
Aber ... das ist doch absurd. Ich habe mich bestimmt in der Person geirrt, jener war mein Klassenkamerad, fast so alt wie ich, er liegt wahrscheinlich schon l;ngst irgendwo auf dem Friedhof.
Als ich jung war, bin ich gern auf dem Friedhof spazieren gegangen, besonders an einem klaren Herbsttag – Friedhof und Herbst harmoniert auf eine sonderbare Weise irgendwie miteinander. Am Tor verkauften t;chtige bescheiden gekleidete alte M;tterchen Blumen, ich spazierte zwischen den Gr;bern umher und las die Inschriften auf den Grabmalen. Da war soviel Interessantes zu lesen und ;ber soviel nachzudenken. Memento mori – das passte genau f;r mich. Ich dachte fast seit der Kindheit an den Tod, seit der Jugend aber hatte ich immer eine ruhige und philosophische Einstellung zu ihm. Ja, ich ging gern auf Friedh;fen spazieren, aber nicht dort, woher ich schlie;lich zur;ckgekehrt bin. Dort hatte ich daf;r einfach keine Zeit und... Ja, dort habe ich den Tod einfach vergessen.
Es ist dunkel geworden. Ich ging nach Hause, aufgew;hlt von der Begegnung, und sa; noch lange bei Licht und grub in meinen Erinnerungen.
Am n;chsten Tag... in einer der schmalen Gassen war fr;her eine kleine Konditorei, an den W;nden Spiegel, ein Blumenornament auf Mattglas an der Decke.
Es war alles so wie fr;her. In der Kindheit bin ich oft dorthin gegangen, dort wurden zauberhafte kleine Marzipanfiguren verkauft und es duftete wie es eben in Konditoreien duftete, nach Kaffee, Kuchenbrot und etwas unwahrscheinlich Angenehmem. Nach Marzipan. Es hat sich absolut nichts ver;ndert. Als ich die T;r ;ffnete, str;mten mir die bekannten D;fte entgegen, und als ich eintrat, ergriff mich eine neue Welle des Erkennens, denn hinter dem Ladentisch stand dieselbe Verk;uferin mit demselben liebensw;rdigen L;cheln wie damals. Nat;rlich war sie auch ;lter geworden, das war schon nicht mehr die bl;hende Frau von drei;ig, doch sie hatte ein gepflegtes ;u;eres, noch immer eine gute Gesichtsfarbe, sah aus wie f;nfzig, seit damals sind doch aber sechzig Jahre vergangen! Ich traute meinen Augen nicht, ich war einfach ersch;ttert, doch sie war es.
Ich hatte gar nicht gehofft, dass sie mich erkennen w;rde, und trotzdem war ich gl;cklich, so gl;cklich wie man ist, wenn man nach Hause zu seiner Familie kommt. Ich bat um ungemahlenen Kaffee und Zucker, und w;hrend sie beides abwog, sah ich sie an und sie schenkte mir ein h;fliches L;cheln, einfach ein liebensw;rdiges L;cheln, nicht mehr.
Als ich den Laden verlassen wollte, ging die T;r auf und ein weiterer Bekannter, ein gro;er sehr d;nner Mann, trat ein und begr;;te die Verk;uferin.
Ich kannte ihn gut, sehr gut - das war mein Mitsch;ler. Doch sein Blick streifte mich nur fl;chtig und er ging zum Ladentisch.
Und wieder fiel mir sein Name nicht ein, ich strengte mein Ged;chtnis unn;tig an.
Es war mir unangenehm, ihn anzusprechen, also ging ich auf die Stra;e hinaus. Ich war so lange weg, und allein die Tatsache, dass sich die Stadt kaum ver;ndert hatte, war schon ein riesiges Gl;ck, aber dieselben Leute zu treffen, das war einfach unwahrscheinlich, das konnte einfach nicht sein...
Sie haben hier tagein, tagaus gelebt, immer am selben Ort wie die Verk;uferin in dem Laden, ja und? Ist also ihre Zeit langsamer vergangen als die Zeit in einer Gro;stadt? Warum sind sie weniger gealtert als ich? Mich packte das be;ngstigende Gef;hl, dass das Geschehen irreal sei, es schien mir sogar als w;rde ich den Verstand verlieren.
Ja, ich war alt und angeschlagen und mein Ged;chtnis war, wie ich jetzt merkte, ganz schlecht, aber an einen Namen erinnerte ich mich doch. Diesen Namen hatte ich nicht vergessen, obwohl der Name der Gro;stadt damals nat;rlich alle anderen Namen verdr;ngt hatte.
Dieser Name, besser gesagt, sein erster Buchstabe war in eine Steinwand in einem wundervollen Innenhof, zwei Schritte von meinem Haus entfernt, eingeritzt, und diese sehr alte Wand konnte nicht verschwunden sein.
 Ich ging  nach Hause, legte mich ein bisschen hin, ruhte mich aus und ging dann wieder los. Ich bog in den mir bekannten Torweg ganz in der N;he ein... Die Wand war unversehrt und auf einem Stein sah ich, nur einen Hauch dunkler, den Buchstaben E . „Edna“...
Die Zeit war hier stehen geblieben, und diese unver;nderte Stadt war jetzt ihr eigenes Denkmal. Und ich? Ich bin ein ganz anderer geworden... Mir kam eine Erz;hlung in den Sinn. Besser gesagt, ein M;rchen, das ich vor sehr langer Zeit gelesen oder geh;rt hatte. Ein junger Mann war auf eine weite Reise gegangen und war lange fort, dann kehrte er genauso jung nach Hause zur;ck. Seine Reise in eine anderer Zeitrechnung dauerte nur einen Augenblick, zu Hause waren in der Zeit hundert Jahre vergangen. Seine Eltern und Geschwister, andere Verwandte und Freunde waren in dieser Zeit schon  l;ngst gealtert oder verstorben. Er aber f;hlte sich trotz der Jugend unheimlich ungl;cklich.
Und bei mir war es genau das Gegenteil...
Ich ging langsam die enge Gasse entlang, hin und wieder kamen Passanten um die Ecke, und wieder erblickte ich ein bekanntes Gesicht  - das war ein alter Mann, fast achtzig, ich kannte ihn und er h;tte mich auch kennen m;ssen!
Ich gr;;te, er hob sein m;des Gesicht – die erloschenen Augen zeigten nicht das geringste Interesse f;r mich – er l;chelte mit einem entschuldigenden Blick, er hatte mich nicht erkannt und das war ihm offensichtlich peinlich.
Wieder konnte ich mich nicht an den Namen erinnern und auch nicht daran, woher ich ihn kannte.
„Entschuldigen Sie“, sagte er.
Ich sagte meinen Namen.
Er sch;ttelte den Kopf:
„Nein, ich kenne Sie nicht“, l;chelte er noch einmal verlegen und ging langsam weiter. Sein Stock klopfte gleichm;;ig auf das Stra;enpflaster,
Woher kannte ich ihn? Mit ihm verband sich mir ein warmes, dankbares Gef;hl. Den ganzen Tag zerbrach ich mir dar;ber den Kopf und in der Nacht lag ich in der Dunkelheit, die Augen geschlossen, und versuchte, irgendwelche Verbindungen herzustellen, die mir in Erinnerung rufen sollten, wer dieser alte Mann war.
Pl;tzlich ;ffnete sich in meinem Ged;chtnis eine T;r – das ist doch mein alter Lehrer! Der Mathematiklehrer. Er weilt doch schon l;ngst nicht mehr unter den Lebenden! Die Menschen werden doch nicht einhundertzwanzig Jahre alt. Unglaublich – jetzt habe ich ihn eingeholt, wir sind jetzt gleichaltrig, mein Lehrer und ich.
Meine Tage gingen still und einf;rmig dahin. Ich ging durch die verwinkelten Gassen spazieren und in die kleinen L;den hinein, die sich in sechzig Jahren beinahe nicht ver;ndert hatten. Man hatte sie nur gestrichen und renoviert und hat die alten Buntglasfenster und die schmiedeeisernen Gitter erhalten.
Und ;berall, ;berall sah ich Bekannte.  In den Gesch;ften fand ich oft das Bild vor, wobei der Verk;ufer und der Kunde, meine Bekannten, in ein interessantes Gespr;ch vertieft waren, so wie damals. Nur mich erkannte niemand.
Und da, an einem klaren Herbsttag traf ich sie, deren Namen ich mir nicht ins Ged;chtnis rufen musste.
Sie tauchte auch unerwartet vor mir auf, kam um die Ecke. Ich hatte sie schon von weitem erkannt und mein Herz wollte mir aus der Brust springen. Ich sage nicht „mein altes Herz“, es hat schlie;lich keine Falten.
Sie war auch etwas ;lter geworden, war aber trotzdem viel j;nger als ich, sie war h;chstens vierzig. Und immer noch dieselbe bezaubernde Figur und derselbe feste Blick.
Sie wollte an mir vor;bergehen, ich versperrte ihr jedoch den Weg: „Edna“.
Sie zuckte zusammen, in ihren Augen las ich Unverst;ndnis, Verlegenheit, aber keinen Funken Erkennen.
„Edna“, wiederholte ich erregt.
„Entschuldigen Sie“, sagte sie verwirrt. „Ich kenne Sie nicht... Woher aber kennen Sie mich?“
Mich packte Verzweiflung. Die Gro;stadt hatte mir meine Jugend, mein Leben genommen und was habe ich daf;r bekommen? Viele Falten im Gesicht und Einsamkeit. Die, die ich geliebt, aber wegen der Gro;stadt, der Betr;gerin, verlassen habe, wollen mich nicht mehr kennen.
„Edna, ich bin es doch“, wiederholte ich.
„Ich kenne Sie nicht“, wiederholte sie befremdet.
„Du bist doch aber Edna oder nicht?“
„Ja...“
Und warum tr;gst du das Medaillon nicht, das ich dir geschenkt habe?“, fragte ich.
„Wovon reden Sie? Ich verstehe nicht...“
Pl;tzlich merkte ich, wie sich mir der Kopf anfing zu drehen. Ich lehnte mich gegen die Wand, gegen die kalte Steinwand.
„Du wohnst doch aber hier, in diesem Haus!“ sagte ich . „Oder nicht?“
„Ja, doch, aber...Ist Ihnen schlecht? „Gestatten Sie, dass ich Sie begleite!“
Und wir gingen untergehakt, begaben uns hinauf in meine Wohnung, wo sie mich f;rsorglich auf das Bett setzte. Sie wollte einen Arzt rufen. Ich f;hlte mich jedoch schon besser.
„Du wohnst drei H;user weiter... immer noch, Edna?“ fragte ich.
„Ja, da wohne ich. Doch woher kennen Sie mich?“, sie sah mich mit dem festen Blick ihrer grauen Augen an.
„Du hast mich vergessen“, sagte ich. „Und ich habe alle Namen vergessen. Nur deinen nicht, Edna. Na gut, ich erinnere dich – ich hei;e Martin.“
„Nein, es tut mir sehr leid... Ich kenne Sie nicht.“
Sie l;chelte schuldbewusst. „Ist Ihnen schon besser?“
„Ja“.
„Entschuldigen Sie, aber ich bin sehr in Eile“.
„Erinnerst du dich denn nicht daran, wie ich deinen Namen in den Stein einritzen wollte, du aber hast mich ausgeschimpft, hast mich einen Rowdy genannt und es mir nicht erlaubt? Deshalb steht dort auch immer noch nur der erste Buchstabe. Du hast das gern erz;hlt.“
Pl;tzlich sah ich, wie ihr Gesicht aufleuchtete. Sie erinnerte sich!
„Hier nebenan, im Torbogen?“, fragte sie.
„Ja.“
„Also... Das hei;t, Sie sind... Martin! Ich habe alles verstanden. Meine Gro;mutter hat mir von Ihnen erz;hlt und hat mich sogar hierher gef;hrt und mir diesen Buchstaben gezeigt. Ja, ich bin Edna – zu Ehren der Gro;mutter hat man mich so genannt. Sie ist aber schon lange tot. Verzeihen Sie – kommen Sie mich doch irgendwann einmal besuchen, jetzt bin ich aber sehr in Eile.“
Sie ging rasch davon, eine freundliche, aber gleichg;ltige junge Frau.
Jetzt habe ich verstanden. Ich bin nicht zur;ckgekehrt. Ich bin dort geblieben in der Gro;stadt mit dem wechselnden Antlitz. Zur;ckgekehrt sind jene, die nicht fortgegangen sind.
 
 
DAS KLEINE CAF;

Ein Traum... Wie Nebelschwaden ziehen die Tr;ume vor;ber.
Doch dieser Traum kommt hartn;ckig immer wieder.
...Eine menschenleere Gasse. Akkurat gestutzte Pappeln. Alte graue zweist;ckige H;user. Der Wind treibt die Herbstbl;tter ;ber das Kopfsteinpflaster. Ich gehe die holprige Stra;e entlang und mir ist grundlos schwerm;tig ums Herz. Die Bl;tter rascheln unter den F;;en. Der Wind zaust in meinen Mantelsch;;en.
Ich gehe auf eines dieser zweist;ckigen H;user zu, das aussieht wie alle anderen. Darin ist unten ein kleines Caf;.
Zwei halbzerfallene Stufen. Die graue Farbe an der T;r ist schon fast abgebl;ttert und l;sst die regenfeuchten Bretter zutage treten. Ich ;ffne die T;r...
In dem weichen Halbdunkel des kleinen Raumes brennt eine orangefarbene Leuchte. Um die kleinen Tische stehen im Halbkreis Sessel. Es ist kein Gast da. Der Platz hinter dem Tresen ist leer. Ich setze mich an einen Tisch, z;nde mir eine Zigarette an und warte.
Ich versinke im Halbdunkel, wie das so ist im Traum. Ich kann nicht von hier fortgehen, ehe nicht all das passiert, was passieren muss.
Sie erscheint. Ihr Gesicht... Nur verschwommen sehe ich einen hellen Fleck, sehe die schulterlangen hellen Haare. Ich kann nicht erkennen, was sie an hat. Nur ein undeutlicher orangefarbener Fleck verschwimmt vor meinen Augen.
Sie setzt sich gegen;ber hin, und ich sp;re ihren unabl;ssigen Blick auf mir. Ich senke die Augen und sehe die schmalen Finger auf den Tisch klopfen. Irgendetwas beunruhigt sie. Ich muss ihr Gesicht sehen. Doch es schimmert kaum erkennbar wei; in der Dunkelheit. F;r einen Augenblick werden ihre Z;ge klarer, ich sehe ihr Gesicht deutlich und versuche krampfhaft, es in Erinnerung zu behalten, doch es verschwimmt wieder im Dunkeln. Es bleibt nur ein Fleck, von dem eine unbegreifliche Erregung ausgeht. Er schwebt davon, entfernt sich von mir, und weg ist er. Ich sitze allein, bin erregt und beunruhigt.
Pl;tzlich sp;re ich, dass hinter mir jemand steht. Ich wende mich um... Nein, sie ist es nicht. Das ist die Kellnerin. Sie hei;t Lina. Sie sieht mich schweigend an. Ich m;chte fragen:
„Wer ist sie? Wer ist sie, Lina?“, aber ich bringe kein Wort heraus.
Lina sieht mich seltsam und fremd an. Sie wartet auf irgend etwas. Ach ja, ich muss bestellen.
„Einen Kaffee und einen Kognak“, kann ich endlich sagen.
Im orangefarbenen D;mmerschein steht ein T;sschen aromatischen Kaffees vor mir, im Glas funkelt golden der Kognak.
„Lina, wer ist sie?“,  frage ich aufgeregt.
Doch Lina schweigt. Ihr Blick ist abwesend und teilnahmslos und verst;rkt meine zunehmende Erregung, ich schreie: „Lina! Wer ist sie?“

...Ich erwache. An den Fensterscheiben l;uft der Regen in Str;men herunter. Dieser Traum... Ich kann nicht anders. Ich wei;, dass ich heute wieder in dieses Caf; gehen werde.
Es gibt diese Stra;e und dieses Caf; wirklich in unserer kleinen Stadt.
Das kleine Caf; liegt am ;u;ersten Stadtrand, wohin ich vor etwa einem Jahr zuf;llig geraten war. Dort gibt es weder einen orangefarbenen Leuchter noch die Sessel. Die Kellnerin hei;t wirklich Lina. Wir haben  uns kennen gelernt, als ich das erstemal dort war. Es war kein Gast im Caf; und wir haben ein paar belanglose S;tze gewechselt.
Das ist st;rker als ich. Immer, wenn ich diesen Traum habe, gehe ich morgens, grundlos aufgeregt, in das kleine Caf;, setze mich an den unansehnlichen grauen plastikbeschichteten kleinen Tisch, der wacklig auf seinen d;nnen Metallbeinchen steht, und warte auf irgend etwas... Ich wei;, es wird nichts passieren.
Unsere Stadt... Das ist eine Kleinstadt, in der niemals irgend etwas passiert. Eine ruhige kleine Stadt mit einsamen Gassen und gestutzten Pappeln.
Ich gehe zum Spiegel und sehe unverwandt in mein Gesicht.
Mit meinen neununddrei;ig Jahren... Ich habe nichts zu erwarten. Alles, was in meinem Leben passieren sollte, ist bereits passiert. Vor drei Jahren starb meine Frau. Meine Tochter hat geheiratet und ist in eine andere Stadt gezogen. Meinen Freund habe ich im vergangenen Herbst zu Grabe getragen... Und jetzt sind da nur noch die menschenleeren Gassen, die gestutzten Pappeln und... das kleine Caf; am Rande, wohin au;er mir niemand geht.
Ich ziehe den neuen grauen Anzug an, das dunkelblaue Hemd und binde den orangefarbenen Schlips um. Ich trage ihn kaum, aber diese Sachen hatte ich an, als ich mich das erstemal in dieses Caf; verlaufen hatte.
Es war mein Geburtstag, die Kollegen im Krankenhaus hatten mir gratuliert, wir sa;en noch eine Weile beieinander und gingen dann allm;hlich auseinander und heimw;rts.
Festlich gekleidet, mit einem Strau; roter Nelken in der Hand und leer im Herzen machte ich mich auf den Heimweg. Doch aus unerkl;rlichen Gr;nden bog ich in eine einsame Gasse ab, dann in die n;chste, schlie;lich in die dritte...
Ich merkte nicht einmal, wie ich pl;tzlich an den ;u;ersten Rand unserer kleinen Stadt gelangt war. Der Wind trieb finstere Herbstwolken ;ber den Feldern au;erhalb der Stadt zusammen und es fielen bereits die ersten dicken Regentropfen, die dunkle Flecken im Staub hinterlie;en. Ich wollte nach Hause umkehren, doch da fing es pl;tzlich an, wie aus Kannen zu gie;en. Ich blieb stehen, sah mich um, wo ich mich unterstellen k;nnte, und bemerkte pl;tzlich das unscheinbare Schild ;ber der grauen T;r. Die verblichenen Buchstaben waren kaum zu erkennen. „DAS KLEINE CAF;“ las ich erstaunt.
Ich ;ffnete die T;r. Wirklich klein. In dem winzigen Raum herrschte Halbdunkel. Die Frau am Tresen warf mir einen gleichg;ltigen Blick zu und vertiefte sich wieder in ihr Buch. ;ber ihrem Kopf hing an einem langen Kabel eine Lampe unter einem staubigen Schirm. Ich setzte mich an einen Tisch, legte die nassen Nelken darauf und bestellte einen Kaffee und einen Kognak. Sie brachte den Kaffee und fragte g;hnend:
„Haben Sie Ihren Schirm vergessen?“
„Ja.“
Sie sah verschlafen und schlampig aus. Ich wei; selbst nicht, weshalb ich sie nach ihrem Namen fragte.
„Lina. Und Sie?“
„Karl.“
Sie ging hinter den Tresen zur;ck und vertiefte sich wieder in ihr Buch. Bald lie; der Regen nach und ich beschloss, nach Hause zu gehen. An der T;r fiel mir ein, dass ich mich nicht verabschiedet hatte, und ich wandte mich zur;ck:
„Auf Wiedersehen, Lina!“
„Auf Wiedersehen“, antwortete sie, ohne den Blick von dem Buch zu wenden.
Als ich schlafen ging, fiel mir ein, dass ich den Strau; auf dem Tisch in dem Caf; vergessen hatte. Orangefarbene Nelken. Wieder schlug der Regen ans Fenster, und ich schlief ein. In dieser Nacht hatte ich zum erstenmal meinen Traum...

...Es klingelt an der T;r. Seltsam. Ich erwarte niemanden. Ich ;ffne – eine Frau in einem nassen Sommermantel mit einer Ledertasche reicht mir ;ber die Schulter ein Blatt:
„Unterschreiben Sie!“
Ein Telegramm... Ein Telegramm.
„Was haben Sie? Das ist doch ein Gl;ckwunschtelegramm!“
„W;NSCHE GL;CK...  MAMA.“
Heute ist Sonntag. Auf Arbeit h;tten sie mich schon daran erinnert... Nicht mehr neununddrei;ig. Vierzig.
... Ich nehme den Schirm und verlasse das Haus. Der Regen schl;gt ins Gesicht, der Wind zaust w;tend an den Mantelsch;;en. Die Bl;tter treiben vor den F;;en einher. Herbst. Ein fr;her kalter Herbst.
In unserer kleinen Stadt ist alles nahe beieinander. Die Post und das Telegrafenamt sind im Nebenhaus. Hier ist auch keine Menschenseele. Die Telefonistin erinnert mich irgendwie an Lina. Ich werde sofort mit Mama verbunden. Im H;rer rauscht und knackt es. Aus Langeweile h;rt die Telefonistin dem Gespr;ch zu.
„Danke... Danke, Mama. Ja... ich habe alles entschieden.“
Ein fernes Tuten, ein Knacken und unser Gespr;ch ist unterbrochen.
Die Telefonisten g;hnt und sagt:
„Irgendwo ist Gewitter. Da kann man nichts machen – Herbst.“
„Ja, nat;rlich. Herbst“, antworte ich und gehe hinaus.
Ich habe alles entschieden. Ich ziehe in die Stadt um, in der meine Mutter lebt. Hier h;lt mich nichts mehr. Doch unwillk;rlich biege ich in eine Gasse ein, dann in die n;chste... Die Pappeln ducken sich d;ster unter den Windst;;en. Und da ist auch schon „DAS KLEINE CAF;“.
Ich ;ffne die T;r... Das regentr;be Herbstlicht, das kaum durch die staubigen Fenster dringt, beleuchtet matt die grauen plastikbeschichteten Tischchen. Lina sitzt einsam hinter dem Tresen. Alles ist wie immer. Nein. Irgend etwas ist anders. Ein Blick.
Ich drehe mich nach der Seite, von wo der  Blick kommt. Da sitzt jemand an dem kleinen Tisch ganz in der Ecke. Ich mache einen Schritt in Richtung dieses Blickes. Ein M;dchen in einem orangefarbenen Pullover. Das ist  sie. Das kann nicht sein. Das ist der Traum.
„Setz dich“, sagt sie.
Ich setze mich gehorsam.
Sie nimmt meine Hand in ihre k;hlen H;nde und sieht mich l;chelnd an.
„Du ... bist mir .... im Traum erschienen.“
„Ja?“, l;chelt sie.
„Wie... hei;t du?“
„Anna.“
„Und ich hei;e...“
„Karl“, sagt sie l;chelnd.
Das ist nat;rlich ein Traum. Nur ein Traum.
„Das ist ein Traum!“, sage ich verzweifelt.
„Ein wunderbarer Traum.“
Sie macht sich ;ber mich lustig! Nein. Sie l;chelt gl;cklich. Jemand steht hinter mir. Ich drehe mich j;h um und sehe Lina. Sie wartet schweigend. Es l;sst sich nicht ;ndern. Dieser Traum ist ein f;r allemal vorgegeben, und um aufzuwachen, muss man wieder all das machen, was vorherbestimmt ist... Ich will aber nicht wieder aufwachen. Ich will nicht!
„Ich  - wie immer“, sagt Anna. „Und Du, Karl?“
Ich schweige.
„Einen Kaffee und einen Kognak“, sagt sie zu Lina.
„Ein Traum“, sage ich verzweifelt. „Das ist ein Traum.“
„Was f;r ein Traum, Karl?“, l;chelt Anna.
„Tu nicht so! Du wei;t doch auch, wie es weitergeht. Du verschwindest.“
Ich entziehe ihr meine Hand und stehe auf. Vor mir steht Lina mit dem Tablett. Mir schwinden die Kr;fte. Ich setze mich wieder hin.
Anna sieht mich ernsthaft an. Lina stellt den Kaffee auf den Tisch und geht weg. Einen Augenblick sp;ter kommt sie mit einem Strau; roter Nelken wieder und streckt ihn mir l;chelnd entgegen.
Will sie sich ;ber mich lustig machen... Weshalb? Weshalb bin ich immer wieder dazu verdammt, diesen Traum zu sehen?
„Weshalb, Anna?“
„Ich gratuliere dir zum Geburtstag, Karl!“
Auch das wei; sie. Im Traum ist alles m;glich. Ich kann aber nicht mehr, ich muss aus diesem Traum herausfinden!
„Karl“, sagt Anna. „ich bin fast jeden Abend hierher gekommen und habe auf dich gewartet.“
„Das ist ein Traum“, sage ich.
„Was f;r ein Traum, Karl?“
„Woher wei;t du, wie ich hei;e? Woher wei;t du, dass ich heute Geburtstag habe?“
Anna sieht mich l;chelnd an.
„Ich habe geh;rt, wie du zu Lina sagtest: ‚Und ich hei;e Karl’.“
„Wann hast du das geh;rt, Anna?“
Anna l;chelt und sagt:
„Das ist doch so ein kleines Caf;. Ich habe es geh;rt, als du es zu Lina sagtest“.
„Wann?“
„Du wei;t es also nicht... Genau vor einem Jahr. Ich f;hle mich zu Hause manchmal so einsam, und dann gehe ich in dieses Caf;. Ich wohne hier ganz in der N;he. An jenem Tag habe ich genau hier gesessen. Ich habe auf etwas gewartet, ich wei; selbst nicht, worauf. Pl;tzlich wurde es dunkel und es begann heftig zu regnen. Es war kein Gast da. Hier ist fast nie ein Gast.
Pl;tzlich ging die T;r auf und ich sah dich. Du hattest einen Strau; roter Nelken in der Hand. Du setztest dich an einen Tisch und warst in Gedanken versunken. ’Er hat Geburtstag und ist allein...’, dachte ich. ‚Nun sitzt er hier in diesem kleinen gottverlassenen Caf;.’ Ich sah dich an und sagte immer wieder in Gedanken: ‚Sieh mich an!’. Doch es h;rte auf zu regnen und du gingst, ohne dich umzuschauen, zum Ausgang. Deine Nelken blieben auf dem Tisch liegen. ‚Dreh dich um! Dreh dich um!’, sagte ich immer wieder, und du drehtest dich um! Doch dein Blick glitt teilnahmslos ;ber mich hinweg, zu Lina sagtest du: ‚Auf Wiedersehen!’ und gingst hinaus. Doch da wusste ich schon, dass wir uns wiedersehen werden. Unsere kleine Stadt... Hier kann man einander kaum verfehlen. Ich habe dich ;berall gesucht. Und abends bin ich hierher gekommen.“
„Abends?“
„Ja, ich wusste, dass du fr;her oder sp;ter wieder hierher kommen w;rdest.“
„Ich bin ja gekommen, Anna, aber immer morgens. Ich bin jedes Mal gekommen, wenn ich diesen Traum hatte.“
„Welchen Traum?“
„Ich habe von dir getr;umt. Sehr oft.“
„Weshalb bist du dann damals weggegangen?“
„Ich habe dich doch nicht gesehen, Anna. In dieser Ecke war es ganz dunkel, und ich dachte, ich sei ganz allein in diesem ... „KLEINEN CAF;“. Doch jetzt f;llt es mir wieder ein. Fl;chtig sah ich in dieser Ecke einen orangefarbenen Fleck. Jetzt  begreife ich. Ich hatte schon gedacht, dass meine Nelken orange waren.“
„Orange?“, lacht Anna. „Stimmt. Ich hatte damals einen orangefarbenen Pullover an. Du hast mich gesehen! Aber nicht wahrgenommen...“
„Warum aber hat Lina....“, frage ich, „warum hat Lina dir nicht gesagt, dass ich immer morgens hierher komme? Oder mir, dass du jeden Abend hier bist?“
„Lina!“, rufen wir wie aus einem Munde.
Lina kommt ohne Eile n;her.
„Lina, warum haben Sie uns nicht gesagt... keinen Tipp gegeben..., wie Anna und ich uns begegnen k;nnen?“
Lina g;hnt und sagt:
„Woher soll ich denn wissen, dass Sie aufeinander warten?“
„Lina, Sie haben doch gesehen, dass ich nicht einfach nur so komme“, sagt Anna. „ich bin immer allein gekommen und fast jeden Abend“.
„Woher soll ich denn das wissen!“, g;hnt Lina. „Hierher kommen doch alle allein. Und alle warten auf irgend etwas... und warten... und warten...“



DAS KLEINE CAF; 2
EIN SELTSAMES SPIEL 8
JEDES LOS  GEWINNT 11
DAS M;DCHEN UND DER KATER 19
LEERE PREISSCHILDER 22
DER WAHRHEITSDETEKTOR 26
DER SCHMETTERLING 30
MONACO. MASKEN 32
SIMON UND DIE EICHEN 34
ANTIQUARITAT 36
MARIA 37
DER ZAUBERLIPPENSTIFT 40
DAS KREUZWORTR;TSEL 45
ALLEIN IM ALL 47
INTERVIEW DER ZEITSCHRIFT „DIE EMANZIPIERTE FRAU“
MIT IMMANUEL KANT 49
DER  KOMPLIMENTEGENERATOR 56
ICH WARTE AB 59
DIE GL;SERNE WAND 61
WARUM SIND WIR HIERHER GEFAHREN? 64
NICHT ALLE B;UME SIND GLEICH 66
ARISTARCH UND DER ZAHME SCHMETTERLING 71
MEIN KOPF 76
SUCHE MANN 83
MEINE ;BERM;TIGE MAUS 86
WAS HAST DU ANGERICHTET, KRANDY? 89
DIE KRAFT DES KOMPLIMENTES 93
DAS HAUS 96
DER DUFT DES  MARZIPANS 97