Nach Russland zu neuen Laendereien. Band 2

Èîãàíí Ôîõò-Âàãíåð
Óêàçàâ ISBN, âû ìîæåòå çàêàçàòü êíèãó â ëþáîì êíèæíîì ìàãàçèíå.

I

Der kurvenreiche, stellenweise steil abfallende Weg zum Adamsfeld fuehrte durch einen Eichenhain, zog sich dann an einem kleinen See entlang, an dessen steilem Ufer sich eine hundertjaehrige Eiche erhob, und verlief danach als gerade Linie weiter, die untere Grenze eines abgemessenen Landstuecks markierend. Die Jahre gingen hin, ohne besondere Veraenderungen in der Landschaft zu hinterlassen: derselbe Weg, derselbe Hain, derselbe See mit dem weit verzweigten Baum … Und auch dasselbe Stueck Land. Nur die Eiche wurde immer hoeher und breiter, und das Feldstueck ging von Adam an Ludwig ueber, von Ludwig an Jakob und von Jakob an dessen Sohn Alexander. Unter der Eiche stand eine grob gezimmerte Bank, anfaenglich ein Lieblingsplatz des alten Adam; spaeter wurde das steile Ufer zum beliebten Treffpunkt der Dorfkinder. Der Grund dafuer war ein Seil, das an einem kraeftigen, sicheren Ast des Baumriesen befestigt war und ein immer wiederkehrendes Spiel ermoeglichte, dessen sie niemals ueberdruessig wurden: vom Abhang aus schwungvoll ueber dem Wasser zu schaukeln und dann weit in das Wasser hineinzuspringen, an das flache Ufer zu schwimmen und wieder hinauf zu laufen, um das Spiel zu wiederholen. So wurde der See auf Deutsch auch genannt: Steilufersee, die Eiche aber erhielt den Namen Alter Adam.

Wie die Eiche,  wuchs und verzweigte sich auch Adams Familie, und hundert Jahre nach jener Zaehlung von 1798, die neun Familienmitglieder festgestellt hatte, lebten in Glarus bereits 124 direkte Nachkommen von Adam; weitere 57 waren in umliegende Doerfer gezogen. In Glarus bewohnten die Wagners fuenf Haeuser: vier davon waren grosse „Fuenfwaender“, und in dem fuenften, einem normalen, einst von Adam selbst erbauten Haus lebten jetzt die Familien seiner Urenkel Alexander und Karl. Es versteht sich von selbst, dass zu jener Zeit von Adams urspruenglichem Haus kein Balken mehr uebrig war. Erhalten war der noch im letzten Jahrhundert gegrabene Vorratskeller, doch auch er war bereits mehrfach mittels geteerter Balken erneuert worden, und eine Seite hatte Grossvater Ludwig Mitte des neunzehnten Jahrhunderts mit Ziegeln ausgemauert.
In den Mauern dieses patriarchalischen Hauses wurden lange Gespraeche gefuehrt, die des OEfteren in hitzigen Diskussionen zwischen Gastgebern, geladenen Gaesten und den vielen Mitgliedern des Wagnerschen Klans endeten. Anlaesse zu Diskussionen und Streits gab es genug.

***
1824

Schon die ersten, ganz geringfuegigen Erfolge der Kolonisten gaben den in der Nachbarschaft lebenden Gutsbesitzern Anlass zu UEberlegungen: worin wohl ihr Geheimnis bestand? Man fand auch eine Antwort: Privilegien. Eine „unverschaemt“ niedrige Kindersterblichkeitsrate, der wachsende Ertrag der Felder, die Doerfer sauber und ordentlich, Kolonisten, die sich vor niemandem buecken und vor niemandem die Muetzen ziehen, erstaunlich freundliche Leute … „Beguenstigt sind die! Von Steuern befr … ach nein! Die zahlen sie genau wie wir … Aber von der Wehrpflicht sind sie befreit! Davon werden sie immer fetter!“ In der hauptstaedtischen und der lokalen Presse entfaltete sich eine Polemik zum Thema „Kolonisten – die neue privilegierte Schicht Russlands“: „geschenktes Land“, „vom Wehrdienst befreit“, „ungehinderte Ausreise garantiert“, „mit einem Wort – der neue Adel!“
Finanzminister Graf Jegor Franzewitsch Kankrin liess sich, ohne lange zu ueberlegen, vor den Karren der wutschnaubenden Gutsbesitzer spannen und schlug eine fuenfhundert Rubel betragende Rekrutenabgabe von jedem Kolonistengehoeft vor.

„Von Adel bin ich hinterruecks, ’nen Arschin  hab ich in der Buex“, alberte Ludwigs Bruder Christoph und griff sich durch die Hose an sein bestes Stueck, waehrend er versuchte, auf Russisch einen Kalauer zu verfassen, als Antwort auf die Worte des Bruders: „Auf deren Feldern machen die Leibeigenen die Ruecken krumm, und auf den unseren unsere eigenen Kinder … Wir machen uns selbst zu Knechten.“
„Die Luft wuergen sie uns ab, die Halunken! Die Luft zum Atmen!“, Ludwig schlug mit der Faust auf den Tisch. „Sein ganzes Leben hat Vater geschuftet, um das Haus hier abzuzahlen, und das zweite haben wir mit gemeinsamer Anstrengung errichtet … Kurz und gut, es ist einfach nicht zu schaffen, dass jeder seinen eigenen Hof bewirtschaftet …  Wir werden Fuenfwaender bauen und mit jeweils zwei Familien unter einem Dach leben, die gemeinsam eine Landwirtschaft betreiben.“
„Ist ja nichts Neues – wir hocken eh schon mit zwoelf - sechzehn Mann an einem Herd …“
„Was denn, Ludwig, du hast doch schon zwei Soehne, gib doch den einen zum ewigen Dienst  …“
„Hundsdreck, nur nicht zum Militaer … Wir haben einen Vertrag – wir alle, auch unsere Kinder sind vom Wehrdienst befreit …“

Zur selben Zeit wies Jegor Franzewitsch Alexander dem Ersten ein Exemplar jenes Manifests, das die Grossmutter des Imperators, Katharina die Zweite, herausgegeben hatte, und in dem der Minister auf der dritten Seite Paragraph 7 unterstrichen hatte, welcher lautete:
„Aller obengenannten Vorteile und Einrichtung haben sich nicht nur diejenigen zu erfreuen, die in Unser Reich gekommen sind, sich haeuslich nieder zu lassen, sondern auch ihre hinterlassenen Kinder und Nachkommenschaft, wenn sie auch gleich in Russland geboren, solchergestalt, dass ihre Freyjahre von dem Tage der Ankunft ihrer Vorfahren in Russland zu berechnen sind.“
„Eure Majestaet, mit diesen Worten – ihre Freijahre von dem Tage der Ankunft ihrer Vorfahren in Russland zu berechnen – gab Katharina die Grosse uns die Freiheit, die Anzahl dieser Freijahre festzulegen … Es kann doch nicht sein, dass alle Nachkommen auf immer und ewig … Von diesen Nachkommen gibt es, bei dieser Geburtenrate in den Kolonien, bald eine Million.“
„Verehrtester Graf, ich brauche keinen Kolonisten mit der Waffe in der Hand, ich sehe ihn lieber hinter dem Pflug … Noch sind zu wenige Jahre vergangen, um ihn zu den Unsrigen zu zaehlen, noch ist er nur auf dem Papier russischer Untertan, im Herzen gehoeren die Siedler noch lange nicht zu uns … Die Aushebung von Rekruten wuerde sie aufschrecken, und viele von ihnen wuerden ins Ausland ziehen, in andere Kolonien …  Nein, Jegor Franzewitsch, diese  Freijahre reichen noch nicht aus …“

Im Ukas Alexanders I vom 23. Dezember 1824 wurden die Kolonisten „auf ewige Zeiten“ vom Wehrdienst befreit.

***
1874

Bestaendigkeit koennen wir nirgends beobachten – alles um uns wandelt sich, mal schneller, mal langsamer, und im Schneckentempo veraendert sich sogar das Firmament. Doch ist dem Menschen der unbaendige Wunsch eigen, zumindest etwas zu verewigen – so, dass es ein fuer alle Mal ist, und alles klar, und ohne Wenn und Aber.
Die „ewigen Zeiten“ waehrten fuer die Kolonisten, die aufgrund des Manifests nach Russland gekommen waren, ein gutes Jahrhundert. Kein Wunder, haben doch im Russischen die Worte fuer Jahrhundert und Ewigkeit – Wek und Wetschnost – denselben Wortstamm.
Im Manifest des Zaren Alexander II vom 1. Januar 1874 hiess es: „Die Macht des Staates besteht nicht allein in der zahlenmaessigen Staerke des Heers, sondern vor allem in dessen moralischen und geistigen Qualitaeten, die nur dann eine hohe Entwicklung erfahren, wenn die Verteidigung des Vaterlandes zur Sache des gesamten Volkes wird, wenn sich alle, ohne Ansehen von Stand und Vermoegen, in dieser heiligen Pflicht vereint sehen.“
Die Verordnung von 1874 „UEber die Wehrdienstpflicht“ wurde de facto zum Gesetz ueber die allgemeine Wehrpflicht. Ihr erster Paragraph lautete: „Der Schutz von Thron und Vaterland ist die heilige Pflicht jedes russischen Unterthanen …“

„Oh nein, das lasse ich nicht zu! Meine Kinder werden keine Waffe in die Hand nehmen!“, empoerte sich Johann August auf dem Familienrat, noch immer im selben Elternhaus. In diesem Februar hatten anhaltende Schneestuerme gewaltige Schneewehen auf den Strassen und Hoefen angehaeuft, und die nordwestliche Seite des Hauses, in dem sich die Wagners am Abend versammelt hatten, war bis zur Haelfte mit Schnee zugeschuettet. „Diese Herren koennen sich bei der Aufteilung auf irgendwas nicht einigen, und ziehen dann die Voelker in ihre Scharmuetzel mit rein.“
„Was willst du machen, August! …  Die Wehrpflicht ist fuer alle russischen Untertanen eingefuehrt worden … Befreit sind nur die, die die Staatsangehoerigkeit nicht angenommen haben …“
„Und die sie nicht angenommen haben, werden mit solchen Steuern belegt, dass …“, warf Johann Philipp ein, der Bruder Jakobs, des Hofbesitzers, und wurde sogleich von ihrem Vetter August unterbrochen:
„Das Recht auf Ausreise hat uns bisher noch niemand genommen … Wir emigrieren nach Amerika!“
Eine solche Wendung des Gespraechs hatte niemand in der verrauchten, gut geheizten Stube erwartet, und alle starrten den „Aufruehrer“ in Erwartung einer Erklaerung an.
„Heute druecken sie uns die Wehrpflicht auf, morgen machen sie die Grenzen zu, und dann, ehe man sichs versieht, muessen alle russisch sprechen, und wird unser Glaube unterbunden, und werden alle zu Rechtglaeubigen umgetauft …“
Johann August wandte den Blick hin und her, bestimmte im Kopf die Himmelsrichtung, tickte mit dem Finger in den oestlichen Zimmerwinkel und meinte:
„Hier stellst du die Ikone der Gottesmutter auf, Jakob, und zuendest ein Laempchen davor an.“
„Wie – muessen alle russisch sprechen? Kann man uns denn zwingen? Erstmal muessen sie’s allen beibringen … Und dafuer  – weisst du, wie viel Lehrer sie dafuer brauchen? An der Wolga gibt es schon eine Viertelmillion Kolonisten, und man braeuchte …“, Philipp kratzte sich den Schaedel. „Man braeuchte wahrscheinlich mindestens tausend Schulen.“
„Die Kirche nehmen sie uns nicht … Alle Zaren haben zu allen Zeiten die Glaubensfreiheit garantiert … Sag uns lieber, warum nach Amerika? Wer hat dich denn darauf gebracht?“, schaltete sich Karl in das Gespraech ein, der gemeinsam mit seinem Bruder Georg in einem Fuenfwaender wohnte. (Karl und Georg waren leibliche Brueder von Philipp und Jakob, dem Gastgeber).
„Die Mennoniten. Die haben in Samara einen Sammelpunkt fuer Ausreisewillige eroeffnet. Im Mai geht’s los, ueber Petersburg nach Amsterdam, und von da aus weiter nach New York …“
„Du willst dich doch wohl nicht den Mennoniten anschliessen?“
„Und wenn schon! Im Unterschied zu uns sind die sich einig, die stehen fest fuereinander ein, nicht so wie hier in Glarus, wo jeder sein eigenes Ding macht … Die hatten sie fuer zwanzig Jahre vom Wehrdienst befreit, und ihnen nach Ablauf dieser Frist einen Zivildienst versprochen – als Jaeger, Waidmaenner, oder bei der Post … und jetzt haben sie alles rueckgaengig gemacht: zahl dreihundert Rubel oder ab zu den Soldaten … Dabei verbietet ihnen ihre Religion zu kaempfen …“
„Und wenn ihr Dorf mal von Banditen ueberfallen wird, was machen sie dann?“, fragte Jakobs zwanzigjaehriger Sohn Alexander, der bis dahin kein Wort verloren hatte, respektvoll.
„Sie geben ihr Letztes, weil ja nicht Gott die Banditen erschaffen hat, sondern die Menschen haben sie dazu gemacht …“
„Und wenn die anfangen zu morden?“
„Dann ist es wohl Gottes Wille …“
„Hoer auf, Bruder, dummes Zeug zu reden“, stoehnte Johann Jakob, den sie neuerdings immer oefter einfach Jakob nannten.
Er geriet ausser sich, wenn jemand staendig Gottes Willen erwaehnte; die Bibel las er seit langem nicht mehr, und seiner gottesfuerchtigen Ehefrau Maria hatte er anbefohlen: „Dass mir dieses Buch nie mehr unter die Augen gerate!“ Und so war es dazu gekommen:
Jakob hatte einmal in einer Zeitschrift einen aufklaererischen Artikel ueber den Wasserkreislauf in der Natur gefunden. Nachdem er ihn studiert hatte, holte er die unter dem Bett liegende Bibel hervor, blaetterte darin, fand die entsprechende Seite und las laut vor: „Das Wasser aber schwoll immer maechtiger an auf der Erde, so dass alle hohen Berge, die unter dem ganzen Himmel sind, bedeckt wurden.“
Jakob sprang vom Bett hoch und setzte sich auf den Rand der Schlafstatt.
„Und woher soll soviel Wasser gekommen sein, „alle hohen Berge“ „unter dem ganzen Himmel“ zu bedecken?“
Mit dieser Frage begann er, den Pastor seiner Gemeinde zu behelligen. Er fuehrte dem AErmsten einen unwiderlegbaren Beweis fuer die Absurditaet der Geschichte von der Arche Noahs an:
„Schoepfen Sie doch mal einen Eimer Wasser aus dem kleinen See am Alten Adam und giessen sich den ueber den Kopf, und dann schoepfen Sie noch mal und giessen noch mal, und dann wieder und wieder … Na, und wird das Wasser im See ansteigen oder nicht? So eine UEberschwemmung kann an einem bestimmten Ort geschehen, aber niemals zur selben Zeit auf der ganzen Erde!“
Anfaenglich hatte der Pastor noch versucht, dem Wort der Wissenschaft gemaesse Beweise zu finden, nahm aber sehr bald Abstand von diesem Vorhaben und erklaerte, man muesse die Geschichte von Noah sinnbildlich verstehen, „und nicht so wie du, wortwoertlich.“ „Und alles andere, was da geschrieben steht, muss ich das auch mehr als eine Art Allegorie verstehen – oder wie?“
Zu derartigen Diskussionen war der Diener Gottes nicht bereit und beendete jeden weiteren Disput auf brueske Weise:
„Es existieren natuerliche Dinge, und widernatuerliche und uebernatuerliche, und letztere liegen in der Hand Unseres Herrn. Deine Sache ist es, zu glauben, und nicht umherzutoenen!“
Bei sich dachte er: Man sollte in den Schulen unbedingt die Christenlehre verstaerken, damit solche Zweifel ausgerottet werden … nur unsere Protestanten stellen solche Fragen, die Katholiken wagen nicht mal, so was zu denken.
Seitdem besuchte Jakob den Gottesdienst nur noch an Feiertagen und nannte im engsten Kreis den Verfasser der Bibel einen voelligen Dummkopf, dem genau solche Dummkoepfe gefolgt seien. Wenn man ihm zur Antwort gab, in der Heiligen Schrift offenbare sich der Allmaechtige selbst, antwortete er, dass Gott solchen Unsinn nicht verfasst haette:
„Betrug ist das, klarer Betrug!“
„Ja, glaubst du denn ueberhaupt an Gott? Gibt es deiner Meinung nach einen Gott?“
„Den gibt es. Doch huellt Er sich in Schweigen und fluestert niemandem etwas ein!“
„Wieso?“
„Genau so!“

Der Hausherr erhob sich von seinem Stuhl, rieb sich mit der Faust das Kreuz und sagte, dass man zum sechsjaehrigen Wehrdienst nur Soehne aus Familien einberufe, in denen genuegend Arbeitsleute vorhanden seien, so habe es ihm der Dorfschulze erklaert, und aus Glarus wuerde nur ein Rekrut im Jahr eingezogen, der per Losverfahren zu ermitteln sei.
August ging ueber diese Erlaeuterungen hinweg.
„Noch bin ich kein Mennonit, Brueder, aber ich werde mit ihnen gehen, und dann sehe ich weiter … Bis Mai muss ich alles verkauft haben … Mein erworbenes Land teilt unter euch auf.“

***
1898

Und so sind wir im Grunde schon im naechsten Teil unserer Erzaehlung angelangt. Obwohl die Zahl der Kolonisten aufgrund der Emigration gesunken war, stellten die Wolgakolonien, die sich in den Jahren davor ausgeweitet hatten, Augenzeugen zufolge das Paradies auf Erden dar.  Hier bluehten und dufteten die Obst- und Blumengaerten. Die Fluesse trugen ihr klares, sauberes Wasser – Grundlage baeuerlichen Wohlstands – gleichmaessig durch viele verschlungene Adern hinab zur Wolga. In den grossen und kleinen Seen, den Fischteichen und Buchten gab es vielerlei Fisch. Auf den Feldern setzten Weizen, Roggen, Gerste und andere Getreidekulturen ihre AEhren an. In den Gemuesegaerten reiften Wasser- und Zuckermelonen. Alles war wahr geworden, was in der Praeambel des Vertrags mit jenen Kolonisten gestanden hatte, die auf Katharinas Einladung hin an die Mittlere und Untere Wolga gekommen waren. Es war wahr geworden, doch nicht gleich, sondern hundert Jahre spaeter im Ergebnis beharrlicher Arbeit.
Nur eines war nicht geschehen – die Russifizierung der Kolonien. Selbst nach Ablauf von ueber hundert Jahren waren die Deutschen Deutsche geblieben. Und nicht nur das: die Pedanterie, Direktheit im Urteil und in der Rede, Ehrlichkeit, Unbestechlichkeit, Arbeitsliebe und andere fuer die Deutschen typische Eigenschaften hatten sich noch weiter ausgepraegt. Solche Charakterzuege waren selbst in Deutschland kaum noch zu finden; hier aber, in Russland, waren sie foermlich erstarrt, durch die Arbeit gefestigt, und hatten eine bemerkenswerte Bestaendigkeit erlangt. Doch widersetzte sich der Charakter der Russen, die in den Kolonien lebten, ebenso beharrlich jeder Veraenderung. Wie zum Beispiel Iwan Semjonow, der sich mit Elisabeth Luest verheiratet hatte und in die Kolonie Glarus gezogen war. Er trug sein Hemd mit stoerrischer Hartnaeckigkeit ueber der Hose, obwohl die Kolonisten sich darueber lustig machten. Die Russen wurden hier „Gebundene“  genannt, und aergerte sich jemand ueber ihre Dickkoepfigkeit, hiess es: „Ein Russe hat einen Russen im Busen“, allerdings klang es im Dialekt so: „Ein Russ hat noch ein Russ im Busm“.  Mit einem Wort: die Deutschen aenderten sich nicht, um die Traditionen der fernen Heimat zu bewahren, die Russen aber, weil hier ihre Heimat war.
„Noch was, ich werd mich doch nicht wie ein Deutscher kleiden! Wenn mich Bekannte so erblicken wuerden, wuerden sie mich ja auslachen“, erklaerte Iwan, warum er sich nicht auf die Art der Kolonisten kleiden wollte.
Auch die Sprache lernte er nicht. Er verstaendigte sich auf Russisch, und wenn man ihn nicht verstand, flocht er ein paar deutsche Woerter ein. Wenn auch das nichts half, wandte er sich um Hilfe an seine Frau.