Im Kindergarten

Àñÿ Òðåòüÿêîâà
Ein gro;es Dankesch;n an meine Tochter Ksenia f;r die ;bersetzung!


„Ich f;hle Schmerzen.“
„Wo?“
„Starke Schmerzen. Hier und hier.“ Eine unsichere Handgeste, vom Herz abw;rts.
„Was sehen Sie?“
„Nichts. Es sind nur Schmerzen da.“
„Was f;hlen Sie? Schauen Sie sich um.“
„Schmerz. Dunkelheit. Schatten.“
„H;ren Sie etwas?“
„Nein, nur Stille. Ringsum Stille. F;;e scharren. Fl;stern. Ein weiches Fl;stern. Ich glaube, eine Frau sagt mir... Alles wird gut. Weine nicht...“
Pl;tzlich zuckt der Mensch, der vor mir auf dem Stuhl sitzt, angespannt zusammen. Weinkr;mpfe ersch;ttern ihn. Unerwartet, heftig. Der Kummer ;berrollt ihn wie eine Welle, greift ihn an, ohne ihm Zeit zu lassen, sich wieder zu fassen. Sein K;rper schrumpft zusammen, als erwarte er geschlagen zu werden. Die Schultern h;ngen mutlos. Der Kopf neigt sich zu Boden. Die Haltung eines Verlierers, suizidbereit. Mir wird unwohl. Ich schweige. Schaue auf meine Notizen. Anton, 37 Jahre alt, ein Schlossmonteur, absolvierte das Studium auf der Radiotechnischen Fakult;t in der TU. Ich halte ihm ein Taschentuch hin, lege es in seine Hand.
„Danke.“
Er wischt sich die Tr;nen weg, die in unversiegbaren Str;men aus den geschlossenen Augen flie;en. Er tut mir sehr leid, aber ich kann nichts machen. Ich muss abwarten. Die groüen M;nnerh;nde faltet er unwillk;rlich zu F;usten. Er reibt sich mit den F;usten die Augen. Wie in der Kindheit. Wir sitzen so voreinander schon seit einer halben Stunde. Er weint. Neben ihm t;rmen sich die tr;nennassen Taschent;cher. Es ist an der Zeit, die Fragen zu wiederholen.
„H;ren Sie etwas?“
„Ja, die Mama. Sie geht. Sie verl;sst mich.“
„Wo befinden Sie sich?“
„Ich stehe neben der T;r. Mama l;uft die Treppe hinunter. Mich h;lt irgendeine Frau an der Hand.“
Anton f;ngt von Neuem an, zu weinen. Dr;ckt die geschlossenen Augenlider noch fester zusammen. Ein Erwachsener, ein imposanter Mann. Wom;glich durchlebt er seinen ersten Verlust. Sein Leid ist grenzenlos. Mein Herz klopft - schnelle, dumpfe, pr;zise Schl;ge. Kann man sich an fremden Schmerz gew;hnen? Ich warte schweigend den n;chsten Zeitpunkt f;r die Fragen ab, hin und wieder lege ich Taschent;cher in die zitternden H;nde. Er schluchzt erstickt. Es ist an der Zeit. Er darf nicht hysterisch werden.
„Wo sind Sie?“
„Es scheint... Nein, doch. Ich bin im Kindergarten.“
„Wie sind Sie gekleidet?“
„Ich wei; es nicht mehr genau. Nein. Ich sehe es. Strumpfhosen, Shorts. Hier auf den Shorts, da ist ein Teddy.“ Er deutet mit der rechten Hand auf die Stelle, auf der wahrscheinlich das Teddyb;rbild aufgen;ht w;re. „Ein gelbes T-Shirt.“
„Gut. Was h;ren Sie?“
„Das Ger;usch von Abs;tzen auf der Treppe. Mama geht von mir fort. Sie schaut sich um und sagt: Ich komme dich abholen, wein nicht.“
Die Weinkr;mpfe werden st;rker, er durchlebt seinen Verlust nochmal. Die Stimme zittert.
„Warum geht sie weg?“
„Ich wei; nicht.“
„Sagt Sie Ihnen, dass sie wiederkommt?“
„Ja, aber ich glaube ihr nicht.“
„Was f;hlen Sie?“
„Schmerz. Fast physisch. Der Schmerz zerrei;t mich. Ich weine. Meine H;nde sind ganz nass.“
„Wer ist in Ihrer N;he?“
„Die Erzieherin. Sie h;lt meine Hand und redet beruhigend auf mich ein.“
„Was sehen Sie noch?“
„Nichts.“
Eine Minute Durchschnaufen, um die Information zu ;berdenken. Anton wurde von seiner Frau verlassen. Die Depression dauert mehrere Wochen an. Er nimmt es sich sehr zu Herzen. Ihn halten Gef;hle der Schuld zur;ck, die f;r seine Kr;fte unermesslich sind.
„Wo befinden Sie sich?“
„Im Kindergarten. Wir sind in der Garderobe. Meine Mama ist gekommen, fr;her als ;blich. Sie sagt, dass ich hier ;bernachten muss. Ich will nicht, fange an zu weinen. Mich h;lt die Erzieherin an der Hand. Sie will mich beruhigen. Ich glaube ihnen nicht.“
Anton ballt die H;nde wieder zu F;usten und reibt sich die ohnehin geschwollenen Augen.
„Was sehen Sie?“
„Kinder. Sie stehen an den T;ren und gucken auf mich. Mama l;uft die Treppe hinunter, ihre Abs;tze zockeln. Ich h;re Schritte, wie jemand weggeht. Ich und die anderen Kinder im Spielzimmer...“
Er weint.
„Was passiert?“
„Ich habe keine Lust zu spielen. Ich stehe in der Ecke und heule. Zu mir kommt ein M;dchen, bietet mir an, mit ihr zu malen. Ich will nicht. Ich weine. Sie sagt mir, dass Mama wiederkommt, doch ich glaube niemandem. Man hat mich verlassen. Die ersten Eltern kommen. Die Kinder werden nach Hause abgeholt. Nur ich nicht.“
Wieder eine Pause. Ich lege ihm die Taschent;cher hin.
„Was f;hlen Sie?“
„Alles ist nass. Am Gesicht, an den H;nden.“
„Wo sind Sie?“
„Ich bin im Bett. Ich muss schlafen, aber der Schlaf kommt nicht. Das Kissen ist nass von den Tr;nen.“
„Ist es Tag oder Nacht??“
„Nacht. Es ist dunkel.“
„Ist irgendwer in Ihrer N;he?“
„Ja. Nicht weit von mir entfernt sind ein M;dchen und ein Junge. Sie schlafen. Die Erzieherin sagt, dass ich auch schlafen muss und die anderen nicht st;ren darf.“
Anton durchlebt diese Nacht, seine Einsamkeit von Neuem. Vor mir ist ein reifer erfolgreicher Mann, in dem jetzt ein kleiner Junge lebt, der denkt, dass der morgige Tag nie anbrechen wird. Er hat keine Uhr, er wei; nichts von der Zeit. ;berall ist Dunkelheit. Fremde Menschen. Das erste Mal, das er die Nacht nicht zu Hause verbringt. Jede Minute dauert eine Ewigkeit.
Er beruhigt sich.
„Schlafen Sie?“
„Ja.“
„Was sehen Sie?“
„Irgendwas Seltsames. Ich wache jede Minute auf. Starre in die Finsternis, warte auf den Morgen. Das Kissen ist nass.“
„Was f;hlen Sie?“
„Leere. Sie ist ;berall um mich herum. Mir kommt es so vor, als w;rde es immer so bleiben. Nur Leere.“
„Wo befinden Sie sich?“
„Ich sitze an einem Tisch. Der verhasste Grie;brei. So eine S;lze. Sie ist kalt geworden und hat sich in einen glitschigen dicken Pfannkuchen verwandelt. Naja, Sie wissen schon – wie im Kindergarten eben, ja?“
Ich schweige, doch ich nicke unbewusst. Ja, ich wei;. Ich warte auf die Fortsetzung.
„Ich schaue auf die T;r. Mama hat gesagt, dass sie nach dem Fr;hst;ck wieder kommt. Sie ist nicht da. Meine Augen sind angeschwollen.“
„Was f;hlen Sie?“
„Mir tut der Kopf weh. Sehr stark.“
„Was sehen Sie?“
„Andere Kinder ringsum. Manche essen, die Mehrheit w;hlt in den Tellern rum. Neben mir sitzt ein M;dchen. Mit idiotischen Haarschleifen. Sie freut sich wegen irgendwas. Ich verstehe nicht, ;ber was genau. Ich mag sie nicht.“
„Beschreiben Sie, was um Sie herum ist.“
„Wir spielen im Spielzimmer. In einer Ecke liegt das Spielzeug. Viel Spielzeug. In der anderen Ecke sitzen wir. Kleine Tischchen. Kindertische. Ich zappele auf dem Stuhl rum. Die Erzieherin schimpft. Auf meinem Stuhl ist ein Fliegenpilz. Ein roter, gro;er und sch;ner, mit wei;en P;nktchen. Ich habe keinen Appetit. Mir kommt es so vor, als ob ich hier f;r ewig bleiben werde. Ich schaue auf die Kinder und f;hle mich einsam. Seltsam, nicht wahr?“
Ich lasse die Frage unbeantwortet.
„Was f;hlen Sie?“
„Der Kopf tut weh“, zeigt ungenau im Kreis auf seinen Kopf. „Mir ist ;bel.“
„Was passiert?“
„Alle haben fertig gegessen. Sie r;umen das Geschirr weg. Alle freuen sich. Jetzt werden wir spielen. Ich will nichts. Die Zeit ist stehen geblieben. Ich glaube, es ist bald Mittagessen und Mama ist nicht gekommen. Sie hat mich verlassen. Sie braucht mich nicht mehr.“ Die F;uste ballen sich, aber Anton weint nicht. Zum ersten Mal.
Ich betrachtete seine H;nde eingehender. Man k;nnte sie kaum als gepflegt bezeichnen. Stark hervorstehende Venen, an manchen Stellen aufgedunsen. Grobe Haut, auf den Fingerkuppen durchwegs H;hneraugen. Kurz geschnittene Fingern;gel, stellenweise abgebissene Nagelhaut. Noch eine nachlassende Gewohnheit aus Kindertagen. Die gew;hnlichen H;nde eines Handwerkers.
„Was sehen Sie?“
„Leere. Um mich herum nur Leere. Seltsam, ich bin ja nicht allein, um mich herum sind Menschen. Man erlaubt es mir nicht, im Flur rumzustehen und zu warten. Ich lausche genau hin, aber Mama kommt nicht. Die Erzieherin ruft mich zum Spielen. Ich nicke mit dem Kopf und stehe weiter allein an meiner Stelle.“
„Ist damit der Vorfall zu Ende?“
„Nein. Ich h;re das Klackern von den Abs;tzen meiner Mama. Ich renne zur Treppe, umarme ihre Knie und weine. Mama geht vor mir in die Hocke und fragt: Na, was hast du? Warum weinst du? Ich habe Angst, dass sie jetzt wieder geht und ich dr;cke sie noch fester...“
„Ist damit der Vorfall zu Ende?“
„Ja.“
Wir sitzen schweigend. Anton sammelt seine Kr;fte, um seinen Verlust wiederholt durchzuleben und sich an neue Details zu erinnern. Ich schaue auf den Himmel. Dreizehnte Etage, deswegen ist au;er dem Himmel drau;en nichts zu sehen. Wundervolles Wetter. Sommer. Das Fenster steht halb offen. Man h;rt Autorauschen.
Das Schweigen zieht sich in die L;nge.
„Sind Sie bereit, alles nochmal durchzugehen?“
„Ja.“
Die Tragik des Geschehens verringert sich offensichtlich.
„Wie alt sind Sie?“
„Drei Jahre. Ich bin vor Kurzem drei Jahre alt geworden.“
Anton beschreibt zum zigsten Mal die l;ngst vergangenen Ereignisse, die ihm so viel Leid bereitet haben und aller Logik nach in den Labyrinthen des Ged;chtnisses verloren gegangen sind. Bei jedem Durchgang kommen neue Elemente zum Vorschein, die Einzelheiten der Umgebung, Worte, Gedanken. Unglaublich. Er hat sich beruhigt, die Taschent;cher werden nicht mehr gebraucht. Eine gew;hnliche Episode aus dem Kindergartenalltag, die wom;glich jedem Kind passiert ist, doch von jedem anders aufgefasst wurde. Antons S;tze gewinnen an Zusammenhang, die Fragen sind nicht n;tig. Wir befinden uns in einem fast leeren Raum, schon seit gut zwei Stunden. Ich h;re aufmerksam zu, versuche neue Aspekte aufzuschnappen und sie im Notizheft einzuordnen, das mit Pfeilen bekritzelt ist. Die Pfeile stellen die Chronologie des erlebten Geschehens dar.
„Ich wurde immer seekrank in Fernz;gen. Die Eltern wollten auf die Dacha, und Oma wurde krank und konnte mich nicht wie ;blich zu sich nehmen. Mama erz;hlte mir das erst im Kindergarten. Nat;rlich bin ich traurig geworden.“ Antons Augen sind immer noch zu. Das Gesicht ist trocken, ohne Tr;nen. In seinem Bewusstsein ist die Situation nicht mehr die Trag;die, die sie fr;her war. „Ich weine, Mama beruhigt mich, sie sagt, dass sie morgen nach dem Fr;hst;ck wiederkommt. Wohl eher zum Mittagessen. Sie ist so sch;n, meine Mama! Die Haare sind gelockt.“ Er zeichnet in der Luft die Locken seiner Mutter nach. Er l;chelt. „Der Mantel ist schwarz mit blauem Schal. Sie k;sst mich und ;berl;sst mich der Erzieherin.“ Die Stimme ist ruhig und das erfreut mich. Die Schultern heben sich. Der R;cken ist kerzengerade. Die Haltung eines selbstsicheren Menschen.
Mehrere Male noch spricht Anton den Vorfall durch, nun ist er f;r ihn gew;hnlich, unbedeutend. Er erinnert sich an einige lustige Momente aus dem t;glichen Ablauf im Kindergarten. Der leckere, duftende Borschtsch in riesigen, mit Schmelz ;berzogenen Sch;sseln, die warmen Br;tchen am Nachmittag, die mit Puderzucker best;ubt sind und gro;en Feigen ;hneln.
„Wissen Sie, meine Mama hat mich n;mlich nicht verlassen. Ich habe einfach nur geweint, weil ich so traurig beim Abschied war, aber ich wusste genau, dass sie wieder kommt. So war das.“
„Wollen Sie es nochmal erz;hlen von Anfang bis Ende?“
„Mich interessiert es nicht mehr. Ich war so froh, als sie mich in den Kindergarten abholen kam, dass ich mich nicht zusammenrei;en konnte und wieder anfing, zu weinen. Ich habe sie einfach schrecklich vermisst.“ Anton l;chelte.
„Sie werden jetzt die Augen ;ffnen. Verstehen Sie, dass Sie in der Gegenwart sind?“
„Ja.“
„Wie f;hlen Sie sich?“
„Wunderbar.“
„Tut Ihnen der Kopf weh?“
„Nein. Seltsam, nicht wahr?“
Antons Augen sind schwer zu beschreiben. So, als w;re er gut ausgeschlafen, als w;re er eine schwere Last losgeworden, die ihn lange Zeit gequ;lt hatte, als h;tte man ihm die angenehmste Neuigkeit seines Lebens ;berbracht. Gl;ckliche, leuchtende Augen.
„Danke.“ Mein Sch;tzling dankt mir aufrichtig, dr;ckt meine Hand.
„Ich danke Ihnen...“
Wir treten aus dem Geb;ude, jeder geht in seine eigene Richtung. Ein ruhiger, stiller Abend. Ich laufe durch eine Parkallee und sehe mich nach den vollen Fr;chten der Vogelbeere um. Wie sch;n ist es doch um mich rum! Es riecht nach Gras und Frische, nach einem kurzen Sonnenregen. Das Laub spiegelt sich in fr;hlichen Pf;tzen. Ich denke an Anton. Dar;ber, wie wichtig der heutige Tag f;r ihn ist. Ich hoffe, dass sich irgendetwas in seinem Leben gerade ver;ndert, zum Besseren nat;rlich. Die Hauptsache ist, dass er seiner „erste geliebte Frau“ verziehen und sie verstanden hat.

Anton verl;sst das Gesch;ft mit einem Strau; Maigl;ckchen und der Torte „Polojt“ [„Der Flug“ im Russischen; Anm.d.;.]. Die Eltern seiner Frau leben im Nachbarhaus. Er geht darauf zu, ohne den geringsten Zweifel daran, dass er alles richtig macht. Auf dem Spielplatz im Hof sitzt einsam eine junge attraktive Frau, seine Frau Inna. Sie h;lt auf den Armen einen weinenden Knirps mit zerschlagenem Knie.
„Maximka! Was weinst du denn?“
Der Junge zuckt vor ;berraschung zusammen und h;rt sofort mit dem Schluchzen auf.
„Papa! Papka, kommst du zu uns? Um uns zu dir Hause zu holen?“
„Nat;rlich, mein Kleiner! Komm, wir gehen Tee trinken. Alles wird gut.“ Anton schmunzelt, als er sieht, wie Inna wie gewohnt r;hrend an den Maigl;ckchen riecht.

April, 2012