Teil 12 Berlin - Mitte

Моргенштерн 2
- 2 -  Zunaechst informierte darueber unsere Stadtzeitung:

"Das Girokonto eines Schwerbehinderten Rentners darf nicht gepfaendet werden, wenn darauf nur unpfaendbare Sozialleistungen eingehen. Eine solche Pfaendung bedeute fuer den Schuldner eine sittenwidrige Haerte,- heisst es in einem Urteil des Amtsgerichts Berlin- Mitte. Da er nicht selbststaendig Rente von der Bank abholen koenne, sei es ihm kaum moeglich, die Sieben-Tage- Frist einzuhalten, in der die ueberwiesenen Sozialleistungen vor dem Zugriff des Glaubigers geschuetzt seien. (dpa)".

So haben wir ueber die Sieben-Tage- Frist erfahren. Das bedeutete: die Rente muss aufs Konto ueberwiesen werden, und sieben Tage lang ist sie fuer gierige Anwaelte unantastbar!
Waerend dessen wird die Miete und weitere kommunale Leistungen
abgebucht, und du kriegst kein Aerger mit dem Vermieter.

Es war wie ein Wink des Himmels in der verzweifelten Lage.Es war
Herbst 2002. Die verheerende Ueberschwemmung verwuestete unsere
Stadt.Die Katastrophe der Stadt entsprach der finanziellen Katastrophe meiner Mutter.

Der Arzt sagte ihr: "Beim naechsten Stress sind sie tot",- und er
hat sie ins Krankenhaus ueberwiesen.-"Dort bekommt sie zu essen",- dachte er.
Fuer den Krankenhausaufenthalt wollte meine Mutter neue Nachthemde kaufen. Sie bat mich ums Geld.Ich war schon berufstaetig und verdiente gut. Etwa zweimal im Jahr besuchte ich

meine Mutter: zum Geburtstag und zu Weihnachten. Das war fuer mich die Ehrensache. Aber sie musste in meiner Gegenwart schweigen, sonst wuerde ich sofort verschwinden. Sie hatte von mir Sprechverbot, und sie hat geschwiegen.

Manchmal streichelte sie meine Hand oder kuesste mich auf die Wange.

- Ich komme am Sonntag,- antwortete ich, obwohl sie am Montag schon um 8 Uhr im Krankenhaus sein musste, und am Sonntag sind Geschaefte geschlossen.
Sie hat mir nicht widersprochen. Sie fuerchtete, dass ich explodiere und nicht komme.

Ich verlangte von ihr, dass sie mir ihre Kontoauszuege fuer die letzten sechs Monate zeigt.
- So eine geniale Uebersetzerin muss doch im Geld schwimmen,-
hetzte mein Vater mich gegen sie auf.

Niemand sagte mir, dass sie als Invalidenrentnerin nichts dazu verdienen darf. Ausserdem wurden alle ihre Auftraggeber nach der
Vereinigung arbeitslos.

Damals sprach Guenter Grass:

"Die Vereinigung geschiet auf den Entscheidungen des Kapitals.
Es ist ein Diktat der neuen Kolonialherren.Die Verlierer, die
kleinen Leute in der DDR, verhoehnt man noch mit den Worten:
"Das habt ihr ja selber gewollt". Es ist bitter, daran zu denken,
dass nichts anderes herausgekommen ist aus dem stolzen Ruf in Leipzig "Wir sind das Volk!"

Aber bei all dem Unglueck huellten sich die Baume in wunderbare goldene Gewaender ein und flehten den Herbst an: "Schenk noch ein bischen Schoenheit! Spende ein wenig Trost...Peitsche nicht mit dem Regen, Stuermen und hartem Frost..."

Eine berliner Rechtspflegerin gab ihrem Mandanten den Vollstreckungsschutz. Die gepfaendete Rente wurde rueckerstattet.

Meine Mutter bekam aus Berlin den Gerichtsbeschluss als Muster zugeschickt.
Diesem Beschluss entnahm sie die Formulierungen ueber die 7-Tage-
Frist und die sittenwidrige Haerte. Ihre Rente war ihre einzige
Existenzgrundlage. Trotzdem wurde sie an ihr Konto nicht ueberwiesen.

Was in Berlin gesetzgemaess moeglich war, fuehrte in unserem
Bundesland nicht zur Gerechtigkeit. Zu uns wurden andere Gesetze
importiert.

-3-
               Der schwarze Freitag 13.Juli

Die Mutter war sehr geruehrt, als ich ploetzlich schon am Freitag
anrief und sagte: " In 10 Minuten bin ich bei dir!"
Sie weinte vor Freude und glaubte wieder, dass ich einen guten
Kern haette.

Ich bin mit meinem neuen Auto und mit meiner Freundin gekommen.
Die Mutter stand auf dem Balkon und schaute uns zu. Wir schauten
auf unsere Fuesse.
- Es ist ein schlechtes Zeichen,- dachte Mutter.- Normalerweise
schauen die Kinder hoch, winken und laecheln.

Das zweite Problem war: sie wollte nicht in der Gegenwart einer
fremden Frau ueber die Sorgen sprechen.

Aber schon standen wir vor ihrer Tuer. Jede andere Mutter haette
gesagt:
- Fraulein, warten Sie bitte im Auto.
Oder:
- Soehnchen, komm bitte spaeter allein.

Aber meine Mutter wollte niemanden kraenken. "Du musst so leben,
dass du keinem weh tust,"- war ihr Prinzip.

Sie bat meine Freundin, auf der Couch Platz zu nehmen. Ich setzte
mich an unseren runden Tisch, den ich seit meiner Kindheit so sehr liebte. Hier machte ich Hausaufgaben, obwohl ich meinen Schreibtisch im Kinderzimmer hatte.

Auf dem Tisch lagen ihre Kontoauszuege ausgebreitet. Die Mutter
setzte sich zu mir, mit dem Ruecken zur Freundin, um mit mir leise zu sprechen.
Auf dem Tisch stand das Foto von Hannelore Kohl, die sich vor einigen Tagen das Leben genommen hat. Sie fuehlte sich von Kindern und Mann verlassen.

Ich missachtete das Foto. Es war fuer mich kein Signal. Ich war
aufgeregt wie ein junger Kampfhahn. Ich sah nur meine Freundin
recht von mir. Sie sollte es nun erleben, wie maennlich ich bin!
Ich begann zu schreien:

- Du kriegst von UNS kein Geld auf die Hand! Wir gehen jetzt ins
Geschaeft und kaufen Nachthemde!
- Ihre Miete ist zu hoch,- sprach die Freundin von hinten.- Wir
gehen mit Ihnen ins Sozialamt und Sie bekommen 300 DM Wohngeld.

- Was machst du mit deiner Rente?!- bruellte ich weiter.- Du
kannst mit Geld nicht umgehen!

Die Mutter stand langsam auf und trat zur Seite. "Was mache ich
jetzt? Ich will fliehen, aber ich kann so viel Unterlagen nicht auf dem Tisch liegen lassen...Hier sind meine Kontoauszuege fuer
6 Monate...Als mein Kollege davon gehoert hat, fragte er:"Ist dein Sohn ein Gendarme? Kontoauszuege fuer 3 Monate sind ausreichend."

Er will mich in Gegenwart dieser Person entmuendigen. Diese Analphabetin haelt mich fuer unfaehig, das Wohngeld zu beantragen. Aber das tue ich sogar fuer andere Menschen, die die
westdeutschen Frageboegen nicht verstehen...Wer gab den beiden das Recht, mich so zu ueberfallen? Das ist Hausfriedensbruch.
Jemand hat sie gegen mich aufgehetzt, deshalb sind sie zusammen gekommen."
- WIR haben kein Geld!- bruellte ich weiter.

"Warum schreit er immer in der Mehrzahl: WIR und UNS?,- dachte sie.- Er lebt allein."

Schweigend ging die Mutter an die Tuer und oeffnete sie:
- Soehchen, bitte!- sagte sie leise und zeigte mir den Ausgang.

Ich glaubte meinen Augen nicht! Ich wurde rot! Ich bruellte alles, was mir vorher gegen sie suggeriert wurde.

- Soenchen, bitte!- wiederholte sie.

Unglaubig schaute ich ihr in die Augen. Mir! MIR zeigte sie auf die Tuer!

Ich begriff nicht, was ich meiner Mutter angetan habe.

Die Menschenwuerde ist unantastbar, es sei denn - die Freundin ist dagegen...
 
Teil 13  http://www.proza.ru/2013/11/27/354