Teil 6 Die Post

Моргенштерн 2
Als Schuelerin und Studentin in der Sowjetunion hat meine Mutter im Briefwechsel mit ihren Freunden in der DDR,in der BRD, in der Schweiz, in Russland, Ukraine und in Austria gestanden.  Die Briefe waren jahrzehntelang Lichtblicke in ihrem schweren Leben.

Die Brieffreunde waren ihre Weggenossen in weiter Ferne.  Sie
empfahlen sich gegenseitig gute Buecher, Kinofilme und bildende
Kuenstler.  Sie hatten die gleiche humanistische Weltanschauung. In verzweifelten Lebenslagen waren es Gedanken

an Freunde, die, ohne es zu wissen, das Leben meiner Mutter
retteten. "Du darfst dir nichts antun,- sagte sie sich.- Du darfst nicht spurlos aus dem Leben verschwinden, so lange du
deine Freunde hast..." Die Freundschaft war wie das Licht am Ende des Tunnels.

Mit Ungeduld und Freude wartete sie auf jeden Brief...

1988 in der DDR hat meine Mutter das Buch "Malina" von der
oesterreichischen Schriftstellerin Ingeborg Bachmann gelesen. Die Beschreibung der Post in einem kapitalistischen Land ueberraschte sie sehr.

Eines Tages hoerte der Brieftraeger Kranewitzer auf, die Post zu
zustellen. Von nun an lagerte er die Briefe in seiner Dreizimmerwohnung.   Dieser sensibler gutmuetiger alter Mann begriff die tragischen Folgen seiner Arbeit.

"Ihm waren unsere Strassen vollkommen vertraut, es war ihm klar,
welche Briefe, welche Drucksachen er trug. Auch feinere und feinste Unterschiede bei Namensschreibung mit oder ohne "Herr"
oder "Frau" sagten ihm mehr...ueber Generatioskonflikte und

soziale Alarmzeichen, als unsere Soziologen und Psychiater je
herausfinden werden.
...Er unterschied Familienbriefe und Geschaeftsbriefe...er war von Grauen befallen worden angesichts des Postberges und des
ganzen Risikos seines Berufs, boese Nachrichten zu zustellen." (Zitat-Ende)

Was fuer eine Korrespondenz war das?  Welche Bedrohung sah der
Brieftraeger darin?  Meine Mutter raetselte...In Russland und in der DDR hat sie nichts davon gehoert.

Aber 1997 in der BRD wurde ihr Briefkasten ebenfalls zum TERRORFAKTOR.

Gedruckt mit kleinster Schrift auf dem Briefumschlag:

"Wichtiger Hinweis:
Mit dieser Sendung werden Ihnen in gesetzlich vorgeschriebener Form die im Umschlag enthaltenen Schriftstuecke foermlich
zugestellt. Die foermliche Zustellung dient dem Nachweis, dass dem Adressaten die Gelegenheit gegeben worden ist, von dem Schriftstueck Kenntnis zu nehmen, und wann das geschehen ist.
Den Tag der Zustellung vermerkt der Zusteller auf dem Umschlag
(sieh Vorderseite). Bitte bewahren Sie den Umschlag zusammen mit den darin enthaltenen Schriftstuecken auf. Es dient als Beleg,
wenn Sie angeben muessen, welche Schriftstuecke Ihnen wann zugestellt worden sind.

Wird der Zustellungsadressat oder eine zum Empfang des Schriftstuecks berechtigte Person in der Wohnung oder in den angegebenen Geschaeftsraumen nicht angetroffen, kann das Schriftstueck in einen zu der dem Geschaeftsraum gehoerenden Briefkasten eingelegt werden. Mit der Einlegung GILT das Schriftstueck ALS ZUGESTELLT." (Ende)

Aber faktisch wurde kein Schriftstueck, sondern nur die Benachrichtigung in den Briefkasten eingelegt. Die Schriftschtuecke sollte man auf der
Post holen. Die Schriftstuecke lagen ein Paar Tage dort, danach wurden sie ans Gericht zurueckgeschickt. Obwohl der

Adressat sie nie gelesen hatte, GILTEN SIE ALS ZUGESTELLT, und
die ZEITBOMBE (die Frist) BEGANN ZU TICKEN. Nach Ablauf von vier
Wochen tratt das unbekannte Urteil in Kraft.
Normalerweise gilt  nur  die durch Empfaenger unterschriebene
Zustellung. Aber die neue Justiz hat es sich leicht gemacht:

sie fing das Verhaeltnis mit Briefkaesten an.
 

-2-

Eines Tages oeffnete die Mutter einen Brief und sah die fette schwarze Zeile:

            HAFTBEFEHL GEGEN DIE SCHULDNERIN

Sie brach zusammen. Wofuer?! Was ist das fuer eine Beleidigung? "Menschenwuerde ist unantastbar"- §1 der Verfassung!

"Der Pfaendungsversuch nach dem Kostenfestsetzungsbeschluss ist vom 17.12.1997 in das Vermoegen der Schldnerin - zumindest teilweise- fruchlos ausgefallen.
Mit Ruecksicht darauf wird namens des Glaubigers beantragt,einen Termin zu bestimmen zur Vorlage des Vermoegensverzeichnisses und zur Abgabe der eidesstaatlichen Versicherung durch die Schuldnerin, sowie der Schuldnerin die eidesstaatliche Versicherung abzunehmen.

Fuer den Fall des Nichterscheinens der Schuldnerin oder der Weigerung der Schuldnerin, die eidesstaatliche Versicherung abzugeben, wird beantragt,

             HAFTBEFEHL gegen die Schuldnerin zu erlassen

und dem Glaubiger eine Ausfertigung des Haftbefehls zu erteilen.

Unsere Bevollmaechtigung ergibt sich bereits aus den anliegenden Unterlagen. Die Ansprueche des Glaubigers gegen die Schuldnerin werden unter Bezugnahme auf anliegende, nach dem Stande vom 16.10.1998 berechnete Forderungsaufstellung wie folgt spezifiziert:

-3-    

" 21.3.1997 Zinsen ab Eingang  Summe  Zinsen Nebenford. Saldo
                445,85
10.7.97........................326,56 (Fuer die Berufung, die
der Anwalt Wolf am 1.4.97 zurueckgenommen hat)
26.8.98..........................................28,60
16.10.68.........................................64, 44.........
24.8.99.......................................... 37,90.........
Tageszinsen je Kalendertag ab dem 1.10.99: 0,0849 DM"


So bereicherte sich Tag und Nacht die Anwaeltin Vack auf der Grundlage von Aktenzeichen. Bald wird Sie erfahren, dass
die Berufung das zweite Aktenzeichen bekommen hat. In heller Freude wird sie sich das Honorar auch fuer das zweite Aktenzeichen berechnen, ohne auch dafuer je gearbeitet zu haben!

Solche zerstoererische Kraft liegt in dem Aktenzeichen, wenn der Advokat geldgierig ist!

-4-

Im Zusammenhang mit diesen Forderungen meldete sich bei meiner
Mutter die Gerichtsvollzieherin an.

              " ZWANGSVOLLSTRECKUNG

In der Zwangsvollstreckungssache Herr M. gegen Sie
fordere ich Sie auf, waerend o.g. Sprechzeiten am 24.8.98 die
Forderung ca. 880,00 DM zu zahlen. Bei Zahlungsunfaehigkeit muss
ich Sie am 26.8.98 in der Zeit von ca. 8.00 bis 12.00 Uhr aufsuchen und die Zwangsvollstreckung durchfuhren.

Sollte niemand anrufen oder anwesend sein, so bin ich nach GVGA
gezwungen- nach erwirkter richterlicher Zwangsoeffnungsgenehmigung- Ihre Wohnung auf Ihre Kosten unter
Beiziehung eines Schlossers und zweier Polizeibeamten als Zeugen-
zwangsweise zu oeffnen und zu vollstrecken.

Versuche, die Zwangsvollstreckung zu vereiteln, sind nach dem
Strafgesetzbuch strafbar.
Mit freundlichen Gruessen! Gerichtsvollzieherin A."

Ein Schlag ins Gesicht! Die Erschuetterung! Um den Besuch auszuschliessen, ging die Mutter mit allen ihren Unterlagen zu der Gerichtsvollzieherin. Es fiel ihr schwer. Es war ein weiter
Weg in eine triste Gegend. Vor der Vereinigung litten die Stadtpatrioten darunter, dass dort die alten Hauser nicht modernisiert werden und elend aussehen.

Sie wussten nicht, dass  die ehemaligen Besitzer im Westen leben
und bald zurueckkehren werden.
Es ist so geschehen. Nun sind die Hauser renoviert, aber die
Wohnungen wurden teuer und standen leer. Auf den Strassen lag Hundekot herum.

In der DDR waren alle Menschen berufstaetig und hielten keine
Hunde in der Stadt. Die Strassen waren sauber.

Vor dem GV-Buero stand eine kleine Menschenmenge. Die Menschen
waren schlecht gekleidet, unrasiert und unfrisiert. Sie alle hatten irgendwo Schulden. Aber sie rauchten und tranken Bier aus den Flaschen. Seltsam, dass sie gerade dafuer genug Geld besassen. Die armen Hunde waren auch anwesend.

- 5 -

Die Mutter legte ihren Rentenbescheid, den Mietvertrag und die
Kontoauszuege fuer 3 Monate vor. Daraus folgte, dass ihr Einkommen unter der Pfaendungsfreigrenze lag. Ihr Konto war mit
meinem Ausbildungskredit belastet. Sie bat die Gerichtsvollzieherin, von dem Besuch in ihrer Wohnung abzusehen.

- Ihre wirtschaftliche und finanzielle Lage ist eindeutig negativ. Aber ich will sehen, welche antiquarische Moebel Sie
besitzen.

Die Mutter war wie vom Blitz getroffen! Antiquarische Moebeln!
Wie kommt die Gerichtsvollzieherin dazu?!

- Fragen Sie Ihren Sohn...Ein wahrer Gentelman wuerde seine Mutter nicht
verraten...

In der naehsten Sekunde wurde ihr der Zusammenhang klar. In Amerika besuchten wir eine bekannte Familie. Die Gastgeberin und meine Mutter unterhielten sich ueber ihre Hobbys und Lieblingsgegenstaende im Haushalt.
 
Die Gastgeberin war damals 74 Jahre alt. Sie gruebelte, wem sie
das vererbt, was sie besitzt und liebt. Sie hatte drei erwachsenen Kinder. Meine Mutter hatte nur mich allein.   
- Aber ich will nicht! Ich will keine Antiquitaeten!- rief ich
laut.

Ich war 15 Jahre alt und verstand nichts von Traditionen und
Kulturerbe.
Meine Mutter dagegen hat das grosse Oelgemaelde von ihrem alten Kollegen Otto Drohsinn in Brandenburg/Havel uebernommen und in Ehren gehalten. Der Kollege starb 1977 im Alter von 80 Jahren im
Pflegeheim.

Das Oelgemaelde wird bald  100 Jahre alt. Wie das Schicksal es wollte, sah meine Mutter rein zufaellig im Antiquariat eine Porzellanvase mit denselben grossen Rosen, in denselben Farben, wie sie auf dem Oelgemaelde abgebildet sind. Sie war eindeutig
von demselben Kuenstler geschaffen worden. Die Mutter kaufte die Vase, als waere das der Trost aus der Ewigkeit. Es geschah an einem Tag im Fruehjahr 1998,als sie erfahten hatte, dass unsere Gartenanlage bis zum Jahre 2011 per Rathausvertrag erhalten bleibt und nicht abgerissen wird, wie mein Vater dies im Gericht gelogen hat.

Das bedeutete, dass er meiner Mutter entweder den Garten, oder das Geld dafuer abgeben muesste.

Also auch das Gespraech ueber Antiquieteten verquatschte ich auf der Datsche?! Quatschte ich, dass es Antiquitetaeten zu pfaenden gibt in der Wohnung meiner Mutter?  Welcher Teufel hat mich geritten?  Wer suggerierte mir, dass sie gepfaendet werden muessen?  Meine Worte hat der Papa Hulk der Anwaeltin Vack sofort nacherzaehlt.

Die Gerichtsvollzieherin sagte, dass die Erinnerungsgeschenke normalerweise nicht gepfaendet werden. Sie haben nur ideellen Wert.      
Die Beduerftigkeit meiner Mutter hinderte dennoch die Anwaeltin Vack nicht daran, meine Mutter weiter zu verfolgen.

http://www.proza.ru/2013/10/12/1868  Teil 7