Teil 2 Das Maedchen aus Tokyo

Моргенштерн 2
Am 22. April 1996 feierte ich mit Freunden unseren Abschlussball
an der High- School. Die Abschlussbaelle werden in den USA nach
einem traditionellen Ritual durchgefuehrt. Die Vorbereitung und die Durchfuehrung sind teuer.

Ich habe darueber bereits vor 2 Jahren erfahren.

Im Schuljahr 1993-1994 war ich nicht der einzige Austauschschueler an der High-School St. Clair, Missouri. Aber
ich war der Juengste- ein Fuenfzehnjaehriger! Es war fuer mich eine grosse Ehre, dass mich eine Abiturientin zum Abschlussball
als ihren Begleiter eingeladen hatte.

Nur so durfte man an diesem Ball teilnehmen. Es war kein Fest
fuer alle Schueler- es war das Fest der Abiturienten!

Die Abiturientin Satoko Watanabe aus Tokyo war ein aussergewoehnliches Maedchen! Sie war die beste Schuelerin mit
allen Zensuren "A" in allen Faechern! Die renommiertesten
amerikanischen Universitaeten boten ihr Studienplaetze und
Stipendien an! Sie waehlte Massachusett.

Das Vorbereitungsritual bestand darin, dass das Maedchen den Farbton ihres Kleids dem Jungen ihrer Wahl nennen sollte. Die
Aufgabe des Jungens war, einen Armreif aus Seidenblumen im
gleichen Farbton zu bestellen. Desweiteren war es ueblich, einen Cadillac mit Chauffeur rechtzeitig unter Vertrag zu nehmen.

Die Ausgaben fuers Auto habe ich mit einem amerikanischen Freund geteilt. Mit Cadillac holten wir unsere Maedchen von den Gasteltern ab und begleiteten sie zunaechst ins Restaurant. Danach sind wir in die Schule zum Ball gefahren. Diese Reihenfolge war Tradition.

Davon lebten private Firmen in der Stadt: Schneider, Kunstblumenhandwerk, Autovermietung, Restaurants...

Satoko Watanabe trug ein zartes lachsfarbenes Kleid.
Zu Abend assen wir Glasnudeln.

Der Ballsaal war festlich geschmueckt mit Lampions, Girlanden
und Theatermasken. Die Jungs trugen Fracks, die Maedchen- echte Ballkleider in Pastellfarben.

Alle tanzten, lachten, liessen sich fotografieren allein, zu zweit und in Gruppen mit ihren Klassenkameraden und Lehrern.
Jede amerikanische Klasse wird in einem so genannten Jahrbuch
mit Fotos ab der 1. Klasse bis zum Abschlussball verewigt.

So wird die Entwicklung der Kinder zu Erwachsenen dokumentiert...

Dort werden die Namen und Fotos der Abiturienten festgehalten, einschliesslich verschiedene vorherige Unterrichts- und Sportereignisse,
Baelle und Feste. Die Mutter traumte: 10,20,30 Jahre spaeter wird ihr Sohn
das Jahrbuch oeffnen und an seine gluecklichen Jugendjahre zurueckdenken...

Das wuenschte sie mir sehr, weil ihre Kindheit und Jugend nach dem Krieg
arm und trostlos gewesen sind.

Also: ich belog sie damals. Ich habe in der 11. und der 12. Klassen keine
Mathe belegt. Als mein High - School - Diplom weder an der Uni, noch an der Fachhochschule anerkannt wurde, bin ich ans Ministerium gegangen und erfahren, dass mein Diplom lediglich dem Realschulabschluss gleich gestellt werden kann.
 
Ich bruellte zu Hause: "Aber ich will keinen Realschulabschluss!"
   
...Satoko's Eltern sind zum Abschlussball ihrer Tochter aus Japan nach St. Clair gekommen. Meine Mutter war erst einen Monat spaeter eingetroffen, um mich auf der Reise durch Amerika zu begleiten. Als sie meine Fotos mit Satoko gesehen hat, war sie hin und weg! Von da an verkoerperte dieses Maedchen

ihren Traum von einer intelligenten, reizenden Schwiegertochter aus guter Familie, wo die Alten noch Respekt und Hochachtung
geniessen. Es waere faszinierend, solche Verwandschaft auf anderer Seite der Welt zu haben.

In achtziger Jahren des XX. Jahrhunderts bildeten ein dutzend enthusiastische Dolmetscher in meiner Stadt eine Japanisch-
Gruppe. Sie lernten gemeinsam Japanisch. Ihr Ziel war es, in der internationalen volkswirtschaftlichen Zusammenarbeit DDR- Japan nutzlich zu werden.

Meine Mutter wollte sich dieser Gruppe anschliessen.
Die fernoestliche Kultur, insbesondere Malerei und Gartenkunst, haben sie interessiert. Jedes Jahr hat sie neue japanische Romane gelesen...

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Ich werde den Abiturientenball mit Satoko nie vergessen. Ich war sehr beeindruckt und traumte davon, dass auch ich irgendwann ein gluecklicher Abiturient sein werde...

Und nun war es so weit. Am 22. April 1996 feierte ich mit Freunden unseren Abschlussball! Einen Monat zuvor hat mir meine Mutter fur alle Ausgaben 342 DM ueberwiesen. Die Bankgebuhr betrug 40 DM. 382 DM werden ihr auch teilweise nie beglichen werden,denn im Mai und Juni wird sie meinen Unterhalt nicht mehr bekommen. Die oben genannte Faelschung war daran schuld.

Ende Mai ueberwies mir mein Vater ploetzlich und unerwartet 300 DM. Mit dem Bankbeleg suchte er Anwaeltin Jack auf. Die Anwaeltin reagierte falsch. Sie informierte meine Mutter nicht. Statt ihr zu sagen, dass Mama vor meiner Volljaehrigkeit (im Juni)  den Unterhalt pfaenden oder sie mit der Pfaendung  beauftragen soll, "verbruederte" sie sich mit dem Klaeger und unternahm nichts.

Mit der List wollte mein Vater die Zeit gewinnen und die Pfaendung abwenden. Die Irrefuehrung ist ihm gelungen. Die Anwaeltin Jack blickte nicht durch. Mein Vater hatte noch einen weiteren Betrug in petto. Aber darueber - spaeter. So blieb die Mutter fuer viele Jahre auf ihrem Dispo- Kredit sitzen. Die Zinsen wuchsen jeden Tag.

- Ihr Sohn beluegt Sie! - bruellte Jack am Telefon. Ueber die tatsaechliche Beduerftigkeit meiner Mutter habe ich damals nichts gewusst. Meine drei Schuljahre in Amerika kosteten sie dreissig tausend Mark. In diesen Jahren hat sie weniger als vier tausend Mark Unterhalt bekommen.

Urspruenglich schickte sie mich fuer nur ein Schuljahr nach Amerika und bezahlte dafuer zehn tausend Mark aus ihren Ersparnissen. Das zweite Schuljahr habe ich erzwungen. Jedoch habe ich ihr 1994 in Chikago versprochen, dass ich  meine Schulden zurueckzahlen werde, wenn ich waehrend der Sommerferien und nach meiner Berufsausbildung arbeiten werde. Sie hat Kredit fuer mich aufgenommen.

Unter dieser Bedingung befuerwortete sie schriftlich und muendlich meinen weiteren Aufenthalt 1994-1996 in den USA. Zu diesem Zweck besuchten wir U.S. Headquartier von International Student Exchange und den Praesidenten Imre Takacs in St. Charles, Mo, 63303, Burnside Lane.

Die Burnside Lane war eine sehr schoene Strasse mit guten Haeusern und mit
Blumenmeer in den Vorgaerten. Die Staatsfahnen von Amerika wehten auf hohen Masten vor jedem Haus. " Hier leben die Reichen,- sagte meine Gastmutter
Sharon, die uns in ihrem Auto dahin gebracht hat. - Das ist Paradies auf Erden."

Es war ein Ausnahmefall, dass ein deutscher Schueler das zweite Jahr in Amerika lernen wollte. Die meisten Schueler sind fuer ein halbes Jahr gekommen und kehrten an ihre deutschen Schulen zurueck.

Sie durften ohne Eltern oder Betreuer durch Amerika nicht reisen und somit ihren Aufenthalt um keinen einzigen Tag verlaengern. Die amerikanische Einwanderungsbehoerde passte streng darauf, dass die Jugendlichen in Amerika nicht untertauchen.

Meine Mutter wurde vorstellig, um zu zeigen, dass ich aus geordneten Verhaeltnissen stamme und in meiner Heimat gute Voraussetzungen fuer meine Zukunft habe. Sie lernte Frau und Herrn Takacs kennen und ueberreichte ihnen das Bildband unserer Stadt nebst kleineren Souvenirs.

So war es damals in der internationalen Zusammenarbeit in Europa ueblich. 20 Jahre lang arbeitete meine Mutter auf diplomatischer Ebene. Sie war vertrauenswuerdig. Herr Takacs stammte aus Ungarn. Die beiden haben die gemeinsame Sprache gefunden.

So habe ich die Genehmigung fur die 11. Klasse in St. Clair bekommen. In St. Charles  bezahlte meine Mutter den Vorschuss. Ein Jahr spaeter befuerwortete sie per Post die 12. Klasse.

Drei Jahre vergingen wie im Flug.

Am 16. Mai 1996 kehrte ich nach Deutschland zurueck. Meine Mutter war tagelang mit meiner Integration im bundesdeutschen System beschaeftigt. Das meiste organisierte sie bereits vor meiner Ankunft. Unter anderem gelang es ihr, einen einzigen letzten freien Termin in der Kieferorthopaedie vor dem 19. Juni zu bekommen- ein Tag vor meiner Volljaehrigkeit.

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Angefangen vor dem 18. Geburtstag, sollte die Gebisskorrektur von der Krankenkasse bezahlt werden. Aber fuer die Erwachsenen kostete es damals NEUN tausend DM aus eigener Tasche.

Die Mutter telefonierte nicht nur mit Zahnaertzten herum, sondern auch mit meinen ehemaligen Schulkameraden, denen sie meine Rueckkehr und die Geburtstagsfeier ankuendigte. Meine Freunde sind mit Blumen und Geschenken gekommen. Das war ein schoener Tag! Mit zwei Freunden sprach ich souveraen Englisch! Mama war stolz auf mich!

Sie suchte einen Studiumplatz fuer mich. Ploetzlich wurde sie damit konfrontiert, dass mein High-School-Diplom keine Hochschulreife aufweist. Als sie mir im April viel Geld ueberwiesen hat, sollte ich von diesem Geld den in Deutschland erforderlichen Test (Scholastik Assessment Test) in den USA zusaetzlich zum Schuldiplom ablegen und die Gebuehr dafur bezahlen.

Desweiteren wollte ich die Fahrpruefung bestehen und mit dem amerikanischen Fuehrerschein nach Deutschland zuruckkehren. Das kostete auch Geld. Der Abschlussball und das Jahrbuch ist nicht zu vergessen. Ich feierte mit meiner Freundin Courtney. Ihr Cousin Mark war mein bester Freund.

Fuer meine Mutter war das selbstredend, dass ein Mensch sein Wort halten muss. Sie selbst war immer diszipliniert und zuverlaessig. Deshalb zweifelte sie nicht daran, dass ich mit dem Test und mit dem Fuehrerschein zuruckgekehrt bin: ich war ihr Kind! Laut Evolutionstheorie sollen die Kinder ihre Eltern an guten Qualitaeten gar uebertreffen!.. Oder nicht?

Die Luege mit dem Test war nicht meine einzige Luege. Sie war schlimm genug:
meine Plaene stuerzten ab, aber fuer meine Mutter kam es noch schlimmer.
Von wegen die evolutionaere Entwicklung! Es war gegenueber meiner Mutter die
brutalste Negation der Negation!

Um sie herum braute sich eine Katastrophe zusammen, aber sie wusste noch nicht, dass ihr Sohn auch daran schuldig und mitschuldig war.

Als mein High-School-Diplom an der TU nicht anerkannt wurde, wollte sie im Ministerium vorsprechen und die Sache klaeren.

Sie bat mich um meine Dokumente: High-School- Diplom und den SAT-Test. Ich rastete aus und bruellte! Ich ballte Fauste zusammen und machte einen Ausfallschritt auf sie zu! Meine Gasteltern in Amerika klaerten ihre Probleme mit Kindern durch Pruegelei. Und mein Vater war nicht anders.
 
Aber meine Mutter war dazu nicht faehig. Sie erstarrte vor mir. Traenen kullerten aus ihren Augen. Sie schwieg. Sie wollte von mir nicht zusammengeschlagen werden.

Ich verheimlichte es ihr, dass ich keinen SAT-test gemacht habe! Ich bin mit fuenf Luegen nach Hause zuruckgekehrt. Ich
schwindelte ihr vor, dass mich niemand in die Bezirksstadt fahren konnte und dass ich deshalb den Termin fuer den Test verpasste.

Erst drei Jahre spaeter werde ich mich zufaellig verquatschen, dass ich in der 11. und der 12. Klassen gar keinen Mathematikunterricht gewaehlt hatte und ein himmlisch leichtes Leben fuehrte! Ohne hundert Prozent Mathematik wurde ich zum SAT-test nicht zugelassen.
Ich ging im Wohnzimmer meiner Mutter mit hoch gehobenem Haupt hin und her und habe es nicht gemerkt, dass nach diesem Gestaendnis fuer sie die Welt zusammenbrach. Sie schwieg, weil ich sie immer warnte: " Wenn du nur den Mund aufmachst, gehe ich weg!" Ich hatte schon meine 1-Zimmer- Wohnung und lebte allein.

Sie erinnerte sich daran, wie ich es ihr telephonisch versicherte: "Ja,
Mama, ich nehme 100% Mathe! Weisst du, was mein Lieblingsfach ist? Astronomie!"
In der 12. Klasse sprach ich: "Mama, Trigonometrie ist so leicht! Ich liebe dieses Fach!"
" Mama, ich will nicht nur studieren! Ich werde auch promovieren!"

Die Mutter glaubte, dass ich an der High- School alles richtig mache. Nur eins schien ihr verdaechtig: auch sie war als Schuelerin in Astronomie verliebt. Auch sie fand Trigonometrie leicht und interessant im Vergleich zu Algebra und Geometrie.

Und irgendwann erzaehlte sie es ihrem Kind. Sie dachte, ich hoerte nicht richtig zu, aber der schlaue Fuchs in mir hat alles aufgenommen. Das war List! Mit diesen Verlautbarungen lehnte ich sie vom Thema "100% Mathe" ab.               
Waehrend dessen kuemmerten sich bereits Rolf und Thomas in Berlin um mich.

Der Lehrer Rolf war ein Bekannter meiner Mutter. Sein Sohn Thomas studierte
an der Humboldt-Uni. Nach dem Mauerfall wechselte er schnell an die Uni
West- Berlin. Dort sollte er in Erfahrung bringen, welche Forderungen an
meinen amerikanischen Abschluss bestehen. Thomas besorgte mir die schriftliche Information.

Tja, und da waren sie: die 100% Mathe! Alle glaubten mir, dass ich sie habe.
Thomas bot mir sogar einen Platz als Mitbewohner in seiner Studentenwohnung an. Ich haette mit ihm zusammen in West- Berlin studieren koennen.

Dabei faellt mir die Geschichte von seinem Vater Rolf ein: als Rolf bereits ein langgewachsener Abiturient war und etwas ausgefressen hat, kletterte
seine kleine Mutter auf den Stuhl und gab ihm Ohrfeigen. Er stand still, wie ein Esel, und liess sich schlagen.

Aber meine Mutter brachte mir immer nur Liebe und Vertrauen entgegen...
Vor solcnen Muettern  hat man keine Angst. Man jagt ihnen welche ein.   

Im Juni 1996 ahnte sie nichts und wuenschte mir richtige
Ferien am Schwarzen Meer in Bulgarien am Goldstrand im Hotel
"Glarus". Es war schon alles gebucht. Aber ich sagte: " Nein!".
Sie verreiste allein, und ab dann geriet ich beim Bier und Grillfleisch auf unserer Datsche unter den maennlichen rachsuechtigen Einfluss von meinem Vater und von seinen ebenfalls geschiedenen Kumpanen.



http://www.proza.ru/2013/09/28/1208  Teil 3