Ein Tag aus dem Leben des Rentners Friedhelm

Ãþáíåð Åëåíà
Der vornehme, wie ihn die Nachbarn bezeichnen, und ruhige Rentner Friedhelm ist seit drei Tagen in einen Streit mit seiner Gattin Else verwickelt: Die beiden wetteifern miteinander, wer als erster das l;stige Schweigen bricht.

Bis heute noch keiner. Jeder h;lt mit w;rdigem Stolz seine Bastion. So beschlie;t Friedhelm, am heutigen Tag aus der gemeinsamen Wohnung zu fliehen. Unter dem skeptisch-missbilligendem Blick seiner Lebensgef;hrtin zieht er seine Ausgehweste an, die so viele Taschen hat,  dass er selbst nicht mehr wei;, was in jeder einzelnen zu finden ist. Er l;sst sich manchmal ;berraschen.

Dann kommt es mitunter vor, dass sein Taschenfund zum Grund f;r einen Streit mit seiner Else wird, wie es vor drei Tagen erst wieder vorgekommen ist: Pl;tzlich holte er aus seiner schmalen Brusttasche einen Tampon - und das in aller ;ffentlichkeit, als er mit Else Einkaufen war. Beide wurden rot im Gesicht, er vor Scham, sie vor Zorn.

Friedhelm erinnerte sich nicht, wie dieser Frauenartikel in seine Tasche gelangt war. Vergeblich hatte er versucht, seiner Gattin m;glichst deutlich zu erkl;ren, wozu er ihn brauchte, n;mlich f;r den tropfenden Wasserhahn an der Sp;le. Er wolle damit einem weiteren Wasserverlust vorbeugen, bis der schon angerufene Klempner endlich komme, habe es aber total vergessen, weil die liebe Else in Kaufrausch verfallen sei und ihn eiligst aus dem Hause gezerrt habe.

Seine Frau glaubte ihm kein Wort, weil sie es f;r unm;glich hielt, dass Friedhelm zu Hause dieses Ding hatte finden k;nnen, wo sie f;r solcherlei nicht mehr im passenden Alter war und schon l;ngst diese Sachen aus dem Haushalt geschafft hatte. Auf diese Weise hatte der letzte Streit angefangen.

Und nun will Friedhelm den Tag allein verbringen, ohne seine verstummte Gattin im Blick zu haben. Er nimmt die Autoschl;ssel und geht zu ihrem gemeinsamen gr;nen Opel Corsa, den er stets gehegt und gepflegt hat, streichelt z;rtlich seine gl;nzende Motorhaube und steigt ein, dem Tag entgegen.

Neun Uhr morgens. Ein sch;ner fr;hherbstlicher Tag kommt mit der ganzen Pracht der noch leicht w;rmenden Sonne und den schon etwas goldigen Bl;ttern der bejahrten Kastanienb;ume ;ber dem kleinen ;rtchen, in dem der alte Friedhelm schon sein ganzes Leben verbracht hat. Aus diesem Grunde h;lt er sich f;r einen Ehrenb;rger. Er hatte auch vom Oberb;rgermeister eine Urkunde zu seinem 80. Geburtstag im letzten Jahr erhalten, auf der es schwarz auf wei; in Sch;nschrift steht. Grund genug, um auf alles ein wenig von oben herab zu schauen.

Mit diesem Gedanken macht er einen ersten Stopp an einer Tankstelle und begibt sich in den Tank-Shop. Aus dem Presseregal nimmt er die hiesige Tageszeitung und versucht mit dem jungen Mann hinter dem Tresen ein Gespr;ch anzubahnen. Der Bursche sieht ziemlich unausgeschlafen aus, als ob er nach der Nachtschicht nicht abgel;st worden war und antwortet nur sehr einsilbig und ungern auf die Fragen des aufgeweckten Rentners. Der wird schon von anderen Kunden bedr;ngt, die es an einem Werktag eilig haben. Also verl;sst er den Shop, jedoch nicht wortlos und mit Kopfsch;tteln: “Diese Jugend von heute … diese respektlose.”

So beschlie;t er, sich ins Ortszentrum zu begeben. Zehn Uhr morgens. Bis er sich durch den Berufsverkehr geschl;ngelt hat, ist schon eine halbe Stunde vergangen. Auf der gro;en Kreuzung widerf;hrt ihm noch etwas: Als die Ampel auf Gr;n schaltet, verstummt pl;tzlich sein eigentlich problemloses Auto. Bis er es wieder starten und die Fahrt fortsetzen kann, schaltet die Ampel schon wieder auf rot. So bleibt ihm nichts anderes ;brig, als weiter zu warten. Doch die Fahrer hinter ihm sind erbost und hupen st;ndig. Die Ampel schaltet auf gr;n … da geschieht es wieder und dann noch einmal: gr;n - stumm - hupen - rot - warten - gr;n - stumm - hupen …

Bis er schlie;lich ins Zentrum kommt und einen Parkplatz findet, schl;gt die Kirchturmuhr zw;lf Uhr mittags. In diesem Moment schlie;en alle Gesch;fte und Caf;s in der kleinen Stadt. Es hei;t Mittagspause bis 15 Uhr.

“Pech gehabt”, denkt sich Friedhelm, doch umkehren will er nicht. Er geht die menschenleere Hauptstra;e entlang, die H;nde hinter dem R;cken verschlossen, die Zeitung in der Faust und bestaunt die Schaufenster. Beim Computer-Laden muss er besonders lange stehen, denn es gibt da viele Dinge, deren Funktion und N;tzlichkeit er gar nicht einordnen kann. Dazu noch magisch klingende Worte wie Prozessor, Memorystick, CD-ROM-Brenner, USB-Anschluss, … Besonders dieses letzte Wort USB-Anschluss gef;llt ihm besonders, doch was es bedeutet, kommt ihm nicht in den Sinn.

Etwas vertrauter kommt ihm der Spielzeugladen vor, weil er dort genau so eine Eisenbahn entdeckt, die er mal seinem schon l;ngst aus dem Elternhaus geflohenen Sohn geschenkt hat. Seine Augen wurden komischerweise ziemlich feucht. “Nicht daran denken!” befiehlt sich Friedhelm und marschiert schleunigst weg.

Pl;tzlich f;hlt er sich nicht allein auf der Stra;e. Und siehe da, bei einem Kaufhausportal sitzen auf dem Boden etliche junge Menschen komischen Aussehens, schwarz gekleidet, mit bunten feder;hnlichen Frisuren. Welches Geschlecht die einzelnen “Paradiesv;gel” haben, ist Friedhelm ein echtes R;tsel. Sie alle trinken Bier aus B;chsen, rauchen und lachen unversch;mt laut.

Er kommt n;her und sagt: “Guten Tag, ihr Leute.” Das Gel;chter verstummt, doch niemand sieht in Friedhelms Richtung. Alle “Papageienk;pfe” rauchen und trinken ihr Bier weiter. Jeder scheint besch;ftigt zu sein, jedoch nicht mit Friedhelms Gegenwart.

Da denkt er zum ersten Mal an diesem freien Tag an seine Frau Else, dass sie die einzige auf der ganzen Welt ist, mit der er noch an manchen guten Tagen sprechen kann. Eine Art Wehmut erfasst sein Herz, doch er bleibt in seinem Stolz fest und geht weiter.

Gegen 15 Uhr kommt er in einen kleinen zentralen Park, wo in einem k;nstlichen Teich einige Enten und Erpel schwimmen. Ein paar M;tter sitzen auf B;nken und sprechen leise, die Babys schlafen friedlich in den Kinderw;gen. Friedhelm wagt nicht “Hallo” zu sagen, geht zum anderen Ausgang und geht auf Umwegen zu seinem Corsa.

Hier beschlie;t er, dem Tag noch etwas Gutes abzugewinnen und f;hrt zum gro;en Einkaufszentrum. Auf dem Parkplatz wimmelt es von Menschen und Autos. Er erblickt eine kleine Bude mit der Aufschrift “Th;ringer Bratw;rste”. Ein Werbem;del auf einem angebrachten Plakat mit halb entbl;;tem Busen streckt jedem Passanten einen Teller mit einer appetitlich gemalten Bratwurst drauf entgegen. Auch Friedhelm versp;rt gro;en Hunger und geht z;gig zur Bude. 

Der Verk;ufer sieht nett aus: ein kr;ftiger Bursche mit Schnauzer. Der erste Mensch, der mit Friedhelm Meinungen ;ber das Wetter und die Welt austauscht, w;hrend Bratwurst und Kaffee serviert werden.

Es kommen noch willige Wurst-Fans zum Wagen, ein Mann milit;rischen Aussehens und eine nicht besonders h;bsche Frau, beide um die 50. Friedhelm stellt seinen Plasikbecher auf die Ablage, ungef;hr in Schenkelh;he und bei;t gierig in seine Wurst. Hier denkt er zum zweiten Mal an seine daheimgebliebene Else: Was w;rde sie wohl sagen, wenn sie s;he, dass er eine keineswegs gesunde Mahlzeit zu sich nimmt und dazu noch ;rztlich streng verbotenen billigen Kaffee trinkt …

Pl;tzlich weht ein Windsto; den Becher um und bespritzt die Hose des nebenstehenden, auf seine Wurst wartenden Ex-Milit;rs. Friedhelm schaut dem Betroffenen entschuldigend ins Gesicht, gibt ihm sein Taschentuch zum Abwischen und bittet um Verzeihung. Wie der Mann die Z;hne zusammenbei;t und mit den Augen rollt! Doch er bleibt ruhig, nimmt das Tuch entgegen, sagt “Macht nix”, w;scht die Hose ab.

Bedr;ckt begibt sich unser Rentner zur;ck zum Auto. Die Wurst ist vergessen. Der Tag neigt sich dem Abend zu. Bald werden die Stra;en voll von m;den und arroganten, heimfahrenden Arbeitern sein.

Zu Hause angekommen, sieht er das vom Weinen geschwollene, aber trotzdem so vertraute und liebe Gesicht seiner Frau. “Du?!” sagen sie gleichzeitig zu einander. Die Mauer f;llt. Es gibt kein Schweigen mehr. Hastig fallen sich der Rentner und die Rentnerin in die Arme und schw;ren sich, nicht mehr zu streiten.

Doch am n;chsten Tag findet Friedhelm in einer der vielen Taschen seiner Lieblingsweste folgendes … Das aber ist schon eine andere Geschichte.