Der Irrtum

Ëþäìèëà Êóëèêîâà
 ðóññêîì âàðèàíòå - "Êíèãè ìîè - êîðàáëè"



Buecher sind Schiffe des Gedankens,
die auf den Wellen der Zeit wandern
und vorsichtig ihre kostbare Ladung
von eine Generation
zur anderen Generation tragen.

Francis Bacon





Ich betrachte meinen Enkel und denke in Oxymora*. Der Versuch, meine Gedanken in Worte zu fassen, klingt wohl so: „Ich, eine junge Gro;mutter, habe einen so erwachsenen, kleinen Enkel, der so furchtbar klug, bis zur Unversch;mtheit talentiert und schrecklich schoen ist.“ Eine junge Oma bin ich in der Tat. Was ist eine Frau heutzutage schon mit zweiundvierzig Jahren; beinahe ein Maedchen. Schon wieder ein Oxymoron: ein zweiundvierzigjaehriges Maedchen. Und dieses Maedchen freundet sich bereits fuenf schnell vergangene Jahre gluecklich mit der Rolle der Grossmutter an. Der fuenfjaehrige Enkel Maksim blaettert in dem vor ihm auf dem Tisch liegenden Buch, schaut sich hoechst aufmerksam die Bilder an. Er konnte schon lange lesen, fast seit einem Jahr. Seine Grossmutter hatte schliesslich eine riesige Bibliothek, wie haette er da auch nicht anfangen koennen zu lesen. Die Bibliothek war im uebrigen wirklich eindrucksvoll. In den Regalen konnte man auf Buecher von Urahnen stossen. Hier fand man alles: von Kinderbuechern ueber Belletristik, bis hin zu Memoiren und wissenschaftlichen Abhandlungen. Der Bibliothek war ein ganzes Zimmer von fuenfundzwanzig Quadrat-metern vorbehalten. Ueberall standen Buecher: auf den Regalen vom Fussboden bis zur Decke, in den Schraenken, auf den Fensterbrettern und den zwei Schreibtischen.

Vorsichtig, am Rand, beruehrt Maksim die Buchseite, ohne sie vorher anzulecken, wie es viele Erwachsene machen, er hebt sie behutsam an, bis sie senkrecht steht, laesst sie dann sanft nach links herunter gleiten, haelt den Atem an, geniesst die Vorfreude der Ueberraschung auf den Inhalt der naechsten Seite. Wieder neigt sich sein Kinderkoepfchen ueber dem geoeffneten Buch, sein Gesicht leuchtet, Neugierde widerspiegelnd, die Lippen weiten sich zum Anflug eines Laechelns.

Von meinem Enkel schweift mein Blick langsam durchs Zimmer, bleibt an dem einen oder anderen Buch haengen. So, vor den Buechern sitzend, kann ich meinen Erinnerungen stundenlang nachhaengen, mir irgendetwas durch den Kopf gehen lassen. Die alten Buecher hatten fuer gewoehnlich dunkle Buchruecken, horizontal angelegte, gold gepraegte Buchstaben und einen einfarbigen Einband. Die Neuen zeichneten sich durch ihre bunten, grossen Lettern, welche sich vertikal am ganzen Buchruecken entlang zogen, aus. Die Alten staubten schneller ein, die neuen waren glaenzend und staubunempfindlich. Den Alten haftete ein jahrhundertealtes Geheimnis an, man nahm sie vorsichtig, mit groesster Behutsamkeit in die Haende, als befuerchtete man, die Buchstaben koennten von ruckartigen Bewegungen, wie Sand durch die Finger rinnen und mit ihnen alles versickern, sich alle geheimen Schriften in Luft aufloesen. Die Neuen versprachen die Leichtigkeit der Unterhaltung und leiteten die Gedanken des Lesers in die Zukunft. Man konnte sie hinlegen, wo man wollte, als Untersetzer fuer eine Vase verwenden, oder sie beim Einschlafen die Nacht ueber bis zum Morgen einfach unter dem Kopfkissen vergessen. Die Alten lasen sich langsam, mit Pausen zum Nachdenken, und, ausgelesen natuerlich, befluegelten sie noch lange die Phantasie des Lesers und beanspruchten seinen Geist. Die modernen Buecher liessen sich an einem Tag verschlingen, oder gar in einer Nacht, hatten kurzlebige Wirkung und gerieten schnell in Vergessenheit.

Alle Buecher in der Bibliothek waren mir wichtig, selbst wenn ich mit einigen leichtfertig umging. Ein jedes von ihnen war mir ein Lehrer gewesen. Und jedes bereitete mir unsaegliche Freude. Wehe dem, der es wagte, mich in meiner abendlichen Lesestunde vor dem Schlaf zu stoeren! Ich las zu jeder Tageszeit, doch gerade die Vollfuehrung dieses allabendlichen Rituals versetzte mich in jenen erregenden Zustand der Ekstase und befriedigte mich an einem Abend mehr als saemtliche Kopulationen, die ich mit den wenigen Maennern, welche mich zeitweise durchs Leben begleitet hatten, je erlebt hatte. In Jeden, mit dem ich einst zusammen war, war ich seinerzeit verliebt gewesen. Geliebt hatte ich nur zwei. Nachdem ich mich vom Letzten getrennt hatte, machte ich eine Entdeckung. Ich kann mit einem Mann befreundet sein. Ich kann ohne Sex auskommen. Dafuer habe ich Buecher. Wenn ich las, Fuehlte ich mich mehr Frau, als wenn ich unter einem Mann lag. Wenn ich las, gab ich meinen Gefuehlen freien Lauf, ohne dass mir jemand Sentimentalitaet oder ueberfluessige Empfindlichkeit vorwarf. Anstatt eines zu meinem Gesicht gewandten Maennerrueckens, ergoetzte ich mich an der Offenheit und Zugaenglichkeit des Buches.

Anstelle achtzig Dezibel ohrenbetaeubenden Schnarchens, erreichte mein Ohr das kaum vernehmbare Geroeusch umblaetternder Seiten. Ich hatte es nicht mehr noetig, die Ohren von beiden Seiten mit Kopfkissen zuzuhalten, unter Augenrollen die Schnarch-Beschw;rungsformel „Schnarch, Schnarcher-Schnorchel, schnarche nicht, glaenze Gurgel. Schnarche, du Pferd auf dem Feld, auf dem weiten Acker, nimm das Schnarchen von Gottes Sklaven (hier muss man den Namen des Betreffenden nennen). Amen.“

An Stelle von Maennerschweiss nahm meine Nase wonniglich den feinen, kaum spuerbaren, unvergleichlichen Duft von Druckerschwaerze wahr– dem besten aller Duefte. Um diesem Ritual seine Kroenung zu geben, aehnlich einem Orgasmus, musste ich unbedingt folgende Punkte einhalten:
Die Handlung im Schlafzimmer vollziehen.
Davor unbedingt alle Dinge im Haushalt erledigen.
Den Fernseher ausschalten.
Das Bettzeug und das Nachthemd, sauber und gebuegelt.
Mein Koerper - gewaschen und nach Moeglichkeit nach aetherischem Wachholderbeerenoel riechend.
Ganz wichtig – die Jalousien schliessen.
Ideal, wenn sich in der Zeit eine Katze zu meinen Fuessen auf die Decke legt, wenn es gar nicht anders geht auch der Hund, das haengt natuerlich davon ab, welches Haustier zum jeweiligen Zeitpunkt in meinem Haus lebt.
Am besten, wenn das Buch ein Paradebeispiel fuer die Kunst der Drucktechnik ist.
Zuerst geniesse ich das Buch als Kunstwerk, betrachte die Deckel ausgiebig, beruehre sie vorsichtig mit den Fingern, rieche daran. Schon fuehle ich mich gut.
Dann ergebe ich mich der Gewalt des Buches und seiner Erzaehlung. Die Welt bleibt stehen: Es existieren weder Zeit noch natuerliche Zusammenhaenge – nur ich und das Buch, wie ein einsamer Stern, der durch die Galaxien und den Nebel des Weltalls fliegt.

Ich bemerkte, dass es Maksim gefiel, hier zu sein. Immer, wenn er mich besucht, verbringen wir viel Zeit eben hier in der Bibliothek. Als er noch kein Jahr alt war, ich aber schon Buecher vor ihm blaetterte, tippte mit dem Finger auf die Bilder, oeffnete energisch den Mund und nannte die Namen der abgebildeten Dinge oder Tiere. Ihn magnetisierte mein artikulierender Mund, der exakte Laute ausstiess, mit Faszination schaute er auf dieses Sprachrohr, ums;umt von rosaroten Lippen. Es schienen selbst seine Ohren zu wackeln, waehrend er die aus mir entspringenden Laute aufnahm. Dank seiner Uebungen gelangte er schnell vom Geplapper zu erwachsener, klarer Sprache mit richtiger Artikulation. Mit drei Jahren begann er, Fragen zu stellen. Stets lauschte er mit Interesse meinen Antworten, wobei er mir mit halbge;ffnetem Mund in die Augen sah. Die Fragen wurden von Jahr zu Jahr ausgekluegelter und meine Antworten gruendlicher und epischer. Es waren schon ganze Erzaehlungen. In dem Masse, wie Maksim es liebte, mich auszufragen, liebte ich es weitschweifende Antworten darauf zu geben. Seit dem Saeuglingsalter hatte sich ein eigenartiger Reflex bei ihm ausgebildet. Selbst als er noch nicht sprechen konnte, streckte er seine Haende immer, wenn er mich sah, nach den Buechern aus. Spaeter, als er gelernt hatte, Worte in Saetzen zu formulieren, das geschah ziemlich frueh, mit zwei Jahren, nahm er mich, wenn wir uns bei mir zu Haus trafen, an der Hand, fuehrte mich in die Bibliothek und fragte mit ernsthaftem Tonfall „Und, was lesen wir heute?“ Mit annaehernd fuenf hatte er eine perfekte Aussprache. Spielzeug kaufte ich ihm nie, darum sollten sich ruhig meine Tochter und mein Schwiegersohn kuemmern, doch hatte ich schon erreicht, dass er das gesprochene Wort und die Literatur liebte, unterstuetzte seine Wissbegier mit aller Kraft.

Wie jede Grossmutter war ich oft geruehrt von meinem Enkel.
„Maksim, du bist so klug!“
„Und du Oma, bist du auch klug?“ erwiderte Maksim schlau laechelnd.
„Nun, ich wuenschte es waere so.“ Maessiger Applaus fuer mich.
„Aber Onkel Kostja, der Freund von Papa, sagt, dass nur Maenner klug sind.“
Ich brach in Gelaechter aus.
„Nun, diese Aussage beweist seinen Ausschluss aus der Riege der „klugen Maenner“. Klug sein koennen Frauen und Maenner, man muss den Verstand nur von klein auf trainieren, so wie du. Der weibliche Verstand aber ist schaerfer als ein Messer. Besonders dann, wenn es der Verstand einer Frau ist, die gern liest. Im Gespraech mit einer solchen Frau kann ein Mann mit feinem Geist dazugewinnen.“ Bravorufe, Applaus fuer mich.
„Und die, die nicht lesen? Sind die dumm?“
Nein, ueberhaupt nicht. Sie koennen auf ihre Art Lebensweisheit besitzen. Aber eine Frau, die liest, kann denken. Und darin liegt ihre Gefahr fuer einige Wichtigtuer. Solche Frauen sollte man nie unterschuetzen.“ Explosiver Applaus fuer mich.
Aus meinem Wortschwall entnahm sich Maksim nur das, was er verstehen konnte.
„Also bist du gefaehrlich?“
„Gefaehrlich? Vielleicht fuer solche wie Onkel Kostja, aber nicht fuer dich“.
„Also muss ich mich nicht vor dir fuerchten?“
„Natuerlich nicht. Ich bin doch deine Oma. Und ich liebe dich.“
„Und wenn Du nicht meine Oma waerst, wuerdest du mich nicht lieben?“
„Ich wuerde dich trotzdem lieben“, beruhigte ich Maksim, „obwohl es innerhalb von Familien unterschiedlich ist. Es kommt vor, dass Kinder unter den Eltern leiden oder anders herum Eltern unter ihren Kindern.
„Wie – leiden?“
„Wenn ein Mensch leidet, dann weint er, entweder das Herz, oder der ganze Koerper tut ihm weh, er muss seufzen und tut gar nichts.“
„Leidet Onkel Kostja?“
„Ich weiss nicht. Warum denkst du gerade an ihn?
„Weil Tante Schura immer sagt, dass er gar nichts tut.“
„Vielleicht leidet er… irgendetwas fehlt ihm, wie mir scheint.“ die letzten Worte hatte ich eher zu mir selbst gemurmelt.

Maksim ignorierte meinen Kommentar und entwickelte das Thema weiter.
„Omi, hattest du auch Eltern?“
„Natuerlich. Deine Urgrossmutter und deinen Urgrossvater. Hast du das vergessen? Ich habe dir doch ihre Fotos gezeigt und von ihnen erzaehlt.“
„Ich habe es nicht vergessen, ich will es nur genau wissen. Haben deine Eltern unter dir gelitten?“
Ich dachte einen Augenblick nach.
„Nicht sehr.“
„Was bedeutet das - nicht sehr?“
„Ich war ein hoefliches und fuegsames Kind. Ich habe ihnen nie grosse Sorgen bereitet.“
„Aber warum - nicht sehr?“

Mir gefiel an meinem Enkel, mit welcher Aufmerksamkeit er mir zuhoerte. Er wartete mit hervorragenden Anlagen auf, um in Zukunft ein guter Gespraechspartner zu sein.
Er liebte die Klarheit. In ihm erwachte das Interesse fuer andere Menschen.

Ich betrachte Maksim und ueberlegte, ob es sinnvoll waere, ihm zu erzaehlen, was bis heute an meinem Herzen nagte. Er war ganz aufmerksam, ich schob alle Bedenken beiseite und offenbarte ihm, wie mein Vater einst meinetwegen fast einen t;dlichen Herzinfarkt bekommen hatte. Nun, einen Herzinfarkt hatte er erlitten, nur keinen toedlichen. Mein Vater ueberlebte – aber wie?

Ich war sieben Jahre alt. Mama arbeitete in einem Entwicklungsbuero, Vater im Heizwerk. Er hatte irgendwann einmal ein geisteswissenschaftliches Studium abgeschlossen, ging jedoch nicht als Lehrer an eine Schule, sondern ins Heizwerk als Heizer, um viel Freizeit zu haben. Ein Heizer gibt darauf acht, dass das Feuer in den grossen Heizkesseln staendig lodert, nicht erlischt, wirft immer wieder etwas Kohle nach, um das Feuer am Leben zu erhalten, doch in der restlichen Zeit sitzt er da und beobachtet. Der Kessel erhitzt das Wasser in den grossen Zisternen. Es beginnt zu kochen und der entstehende Dampf, der in einem riesigen Dampfkessel gesammelt wird, dringt in die Rohre, welche nur knapp unter der Erde verlaufen, in die Behausungen der Menschen, gelangt in die Heizkoerper in den Wohnungen und den Menschen wird warm. So war es zumindest frueher. In der Zeit also zwischen dem Nachfuellen der Kohle in den Ofen und der Kontrolle des Drucks im Dampfkessel ergab sich fuer den Heizer die „Freizeit“. Waehrend der Vater im Heizwerk arbeitete, lernte er den Aufbau des Ofens genau kennen und baute mit eigenen Haenden bei uns zu Hause einen Kamin, welcher zum wirklichen Schmuckstueck unseres Domizils wurde. „Wenn man schon kein Geld sieht, gibt es wenigstens einen Nutzen von diesem Heizwerk“, stoehnte die Mutter.

Mein Vater schrieb. Er schrieb einen Roman. Er schrieb ihn viele Jahre. „Dies wird ein epochales Werk!“ teilte er aufgeregt fluesternd der Mutter mit. „Ich schreibe die ganze Wahrheit!“ gab er fest entschlossen mit den Brauen zuckend bekannt. Er schrieb und schrieb diese besagte Wahrheit. Er arbeitete mit Selbstaufopferung, solchem Selbstverzicht am Roman, mit dem man gemeinhin nur das Vaterland verteidigt. Der Roman war mein Altersgenosse. Vater schenkte ihm alles Wichtige: seine Kraft, seine Zeit, sein Wissen, seinen Verstand und seinen Willen. Nur wenig blieb fuer die Mutter uebrig und der kleinste Rest- fuer mich. Mutter beschwerte sich. „Deinen Roman liebst Du mehr als mich. Mit mir sprichst du kaum. Immerzu schreibst und schreibst du. Ich bin fuer dich nur Dienstpersonal.“ Vater mochte es nicht, wenn man ihn in derartige Gespraeche verwickelte. Folgerichtig setzte er sich Selbigen nicht lange aus und machte sich wieder ans Schreiben.

Anfaenglich war Mutter verletzt, dass der Vater ihr nichts vom Geschriebenen vorlas. Auf ihre Frage „lies mir doch etwas aus dem Roman vor“, murmelte er fuer gewoehnlich etwas Unverstaendliches in den Bart, kratzte sich am Hinterkopf, lie; dann diabolisch verlauten „ich bin aberglaeubisch“, womit er das Gespraech fuer beendet hielt. Eines Tages, als die Mutter wieder einmal insistierte wenigstens ein paar Seiten aus dem Manuskript vorgelesen zu bekommen, liess der Vater in entschuldigendem Tonfall verlauten: „Meine Liebe, ich folge einem Gebot; lies Manuskripte niemals der Ehefrau vor, sondern nur wirklich eng Vertrauten.“ Mutter war tief getroffen, sie erwaehnte das Manuskript nie wieder.

Er beschrieb hunderte Seiten, verbesserte, fuegte hinzu, veraenderte. Oft konnte ich ihn, beim Klappfenster am Kamin sitzend, den starren Blick auf die Flamme gerichtet, beobachten. Traege legte er einzelne, mit kleiner Handschrift bekritzelte Schmierzettel, ins Feuer. Manchmal lie; er einen ganzen Packen dieser Blaetter neben dem Feuerholz liegen, um am naechsten Tag das Feuer mit ihnen anzuz;nden, auf die abgebrannten Blaetter legte er dann das schwere, dumpf riechende Holz.

Einmal zeigte sich der Vater fast mehrere Wochen lang nicht zu Haus. Er sass in seinem Heizraum und verbesserte die letzte Variante seines Manuskripts. „Bald ist es geboren“ fluesterte die Mutter mit hoffnungsvoller Stimme. Ich bemerkte nicht, wie der Vater das fertige, ins Reine geschriebene und endgueltig verbesserte Manuskript nach Hause brachte. Ich sah nicht, wie er, den Atem anhaltend auf dem Teppich vor dem Kamin sass, einzelne Kapitel las. Ich konnte nicht sehen, wie seine Augen glaenzten, sich die winzigen, zuengelnden Flammen in seinen Augen spiegelten. Ich konnte sein vor Glueck leuchtendes Gesicht nicht sehen. In dem Moment, da er sein Werk in den Haenden hielt, diesem Wunder, dem Wunder der Sch;pfung, noch nicht Glauben schenken mochte, muss er sich gottgleich gefuehlt haben. Das erste Mal seit Langem war er gluecklich.

Ich war erkaeltet in diesen Wintertagen voller Schneetreiben, ging nicht zur Schule. Am Morgen des naechsten Tages stand ich spaet auf, als die Eltern schon zur Arbeit gegangen waren. Den ganzen Tag schlich ich durch die ungeheizte Wohnung, in Schals und Jacken eingewickelt, war noch sehr schwach und konnte nichts rechtes mit mir anfangen. Bis zur Heimkehr der Eltern blieb nur wenig Zeit. Ich beschloss, ihnen eine angenehme Ueberraschung zu bereiten. Ungeachtet des muetterlichen Verbots, begab ich mich in den Hof, lief zur Scheune, um einen Armvoll Brennholz zu holen. „Wenn Mama und Papa nach Hause kommen, ist es hier schoen warm“ freute ich mich. Beim Kamin lag ein umfangreicher Haufen von beschriebenem Papier. „Aha! Heute ist es mehr, als gewoehnlich.“ dachte ich so bei mir. Ein Drittel des Stapels warf ich sofort in die Kaminoeffnung. Ich rieb das Zuendholz an der Schachtel, es roch nach verbranntem Schwefel, die Flamme griff nach dem Papier. Mit Verzueckung beobachtete ich die zerfallenden, verbrennenden Blaetter. Obenauf legte ich einige Scheite Holz und warf Blaetter nach, bis auch das Letzte in den Flammen war. Auch das restliche Holz uebergab ich dem Kamin, legte mich dann zufrieden wieder ins Bett.

Mein Vater kam als erster nach Hause. Er trat ins Kaminzimmer und blieb auf halbem Weg stehen. Ich lief ihm schon mit ausgebreiteten Armen entgegen, bereit ihm um den Hals zu fallen und die unrasierten Wangen zu kuessen.
„Halt!“ er schob mich mit den Armen zur Seite, wobei sich sein Blick nicht vom Kamin loeste.
„Maschenka, wo ist mein Manuskript?“
„Welches Manuskript?“
„Hier beim Kamin, ein Papierstapel, hier neben dem Kamin hat er gelegen“ praezisierte er.
„Ach. Dieser?! Im Ofen!“ antwortete ich freudig, immer noch ueber das ganze Gesicht strahlend.

Der Vater lenkte seinen Blick vom Kamin auf mich. Noch heute erinnere ich mich an die unnatuerlich weit aufgerissenen Augen, das verzerrte Gesicht. Im Zimmer war es schon einigermassen warm, meine Wangen hatten sich geroetet, Papa wurde urploetzlich merklich blass. Diese derart heftige Veraenderung in seinem Gesicht liess mich zu Tode erschrecken. Er sank langsam zu Boden.

„Papa, Papa“ schrie ich panisch. Er antwortete nicht. Er sass nicht mehr auf dem Boden, er lag. Auf die Seite gewendet, verbarg er sein Gesicht in den Haenden. Ich vernahm sein gedaempftes Stoehnen, dann erhob sich ein ohrenbetaeubender Schrei, fast Geheul, als haette jemand die Luft mit spitzem Messer vom Boden bis zur Decke aufgeschnitten. Angsterfuellt lief ich in mein Zimmer und fiel heulend auf mein Bett.

Der Vater war einige Monate krank. Die ganze Zeit lag er im Bett, das Gesicht zur Wand gedreht. Man warf ihn aus dem Heizwerk. Er fand Arbeit als Korrektor in einem Verlag. In nur wenigen Jahren gelang ihm eine ausgezeichnete Karriere, bis hin zum Posten des Chefredakteurs. Meine Mutter war gluecklich. Und Vater…? Mein Vater laechelte seit jenem verhaengnisvollen Tag nie wieder, als haette ihm die Flamme die Lippen verbrannt.

Ich schloss mit meiner Erzaehlung. Manchmal scheint mir, erzaehle ich die Geschichten eher mir als Maksim.
„Das heisst also, du hast seinen Roman in den Ofen geschmissen?“ unterbrach Maksim als erster die entstandene Pause.
„Genau. Vater war am Vorabend so gluecklich, den Roman vollendet zu haben, dass er alle Vorsicht vergass und das einzige Exemplar seines Manuskripts ausgerechnet dort liegen liess, wo er gewoehnlich die Schmierzettel zum Anfeuern aufbewahrte. Niemand hatte mich gewarnt. Seinerseits handelt es sich um die verhaengnisvolle Zerstreutheit des Kuenstlers. Ein Manuskript gehoert auf den Tisch, nicht auf den Fussboden, merk dir das.
Meinerseits war es ein fataler Irrtum. Ich nahm an, es seien Schmierzettel. Das Resultat - eine Tragoedie.“
„Was ist ein Irrtum?“
„Das ist ein Fehler. Man denkt die Dinge verhalten sich SO und dann ist alles ANDERS.“
„Und wieso fatal?“
„Fatal, weil er zu einem bestimmten Resultat fuehrt, welches unumstoesslich ist und oft mit dem Tod endet.“
„Ach ich weiss, wenn ein Mensch stirbt, ist er nicht mehr auf der Welt“
„Stimmt genau.“
„Aber dein Vater ist damals nicht gestorben.“
„Doch. Es ist etwas in ihm gestorben. Der Schriftsteller ist gestorben. Vielleicht ein begabter Schriftsteller.“
„Kann auch etwas in einem sterben?“
„Ja, das kann geschehen. Der Mensch ist scheinbar lebendig; er isst, trinkt, schaut fern, geht zur Arbeit, unterhaelt sich mit Leuten, doch in Wirklichkeit interessiert ihn nichts mehr, er kann an nichts mehr teilhaben, lebt seine Tage freudlos und ohne Liebe. Meine Mutter hatte Recht. Er liebte seinen Roman und sich, als er ihn schrieb, mehr, als uns beide zusammen. Mit dem Verlust seines Romans verlor er folglich sich selbst und seine einzige Liebe.“
„Was kann man denn nun machen?“
„Man kann gar nichts machen. Das ist ja die Substanz des Fatalen. Es ist unumstoesslich, nichts kann mehr rueckgaengig gemacht werden.“
„Hat dein Vater dich bestraft?“
„Nein. Nicht er, ich habe mich selbst bestraft. Ich enthielt mich meinem Vater. Meine Schuldgefuehle waren so unertraeglich, dass ich mich fuerchtete, ihm in die Augen zu schauen. Er suchte meine Naehe nicht. Damit haben wir uns einander gegenseitig weggenommen. In der Anwesenheit eines Vaters ohne Vater aufzuwachsen - ist das nicht die groesste Strafe fuer ein Kind?“ meine Lippen bebten.
Maksim seufzte mitleidvoll und reichte mir seine Hand.
„Nimm, Oma!“
Ich nahm seine Handflaeche und legte sie an mein Gesicht.
„Nur nicht weinen… du musst nicht traurig sein, ich bin doch da. Wenn wir zusammen sind, haben wir keinen Kummer, stimmt es?“
„Stimmt. Wenn wir zusammen sind, gibt es keinen Kummer, weil wir einander lieben.“
„Ich hab dich lieb, Oma“
„Und ich dich Maksim.“
„Lass uns weiterreden!“
„Nun gut.“ Ich wischte mir mit einem Taschentuch die Traenen ab, die unwillkuerlich herunter gelaufen waren.
„Oma, sag, warum irren sich die Leute?“
„Ich weiss nicht. Vielleicht nehmen sie an, dass das, was sie denken oder glauben wahr ist.“
„Irren sich denn alle?“
„Ja, alle. Es ist dem Menschen eigen, sich zu irren.“
„Mir auch?“
„Dir auch.“
„Und dir?“
„Mir genauso. In kleinen oder grossen Dingen irren wir uns taeglich. Manchmal gleicht es sich von selbst wieder aus, manchmal - geschieht ein Unglueck.
„Du kennst bestimmt viele solcher Geschichten“, lie; Maksim mit Nachdruck verlauten.
„Nicht Wenige.“
„Erzaehlst du sie mir?“
„Ich erzaehle sie. Mit der Zeit werde ich alle erzaehlen.“

Maksim versank in Gedanken, legte den Kopf auf die Seite. Er blieb die ganze Zeit ueber so sitzen, das geoeffnete Buch mit den Illustrationen vor ihm auf dem Tisch liegend. Er liess die Augen sinken, dann blickte er ueber meinen Kopf hinweg, seine Pupillen rutschten nach rechts. In seinem wissbegierigen Koepfchen spukte schon wieder ein neuer Gedanke. Der Eifer, mit dem er ihn bedachte, spiegelte sich auf seinem Gesicht wider. Etwas an unserem Gespraech hatte ihn nicht hundertprozentig zufrieden gestellt. Schliesslich hob er zu einer Frage an:
„Was kann man denn tun, um sich nicht zu irren?“
„Oh, man kann Vieles machen.“ antwortete ich weit ausholend.
„Wie erfuehrt man denn, was genau zu tun ist?“ Ich gruebelte konsterniert. Mein Enkel hatte mich sprachlos gemacht, schliesslich verfuegte ich ueber kein Universalrezept, Irrtuemern aus dem Weg zu gehen.
„Ehrlich gesagt, ich weiss es nicht. Sicherlich muss man viel nachdenken, ueberlegen, die Dinge im Kopf abwaegen, sich kluge Ratschlaege einziehen, seinen Geist anstrengen, nichts ueberstuerzen, haeufig nachfragen. Wer Fragen stellt, verringert die Wahrscheinlichkeit, Fehler zu machen auf ein Minimum.“
„So wie ich? Ich stelle doch auch viele Fragen.“
„Ja, genau so wie du“, ich strich ihm zaertlich ueber die Haare und drueckte ihn fest an mich.
Wir laechelten einander an und wieder kam mir in den Sinn, dass die Liebe zu Enkelkindern staerker sei, als die zu Soehnen und Toechtern.
„Komm wir beide schauen uns ein Bilderbuch an“ schlug ich nach einer Weile vor. Ich rueckte an Maksim heran, unsere Koepfe beugten sich ueber das Buch und wir liessen die Wirklichkeit hinter uns, tauchten ein in die phantastische Welt der Maerchen.

Spaet am Abend, Maksim war schon laengst eingeschlafen, ging ich in die Bibliothek und knipste die Tischlampe an. Lange sass ich regungslos, betrachtete das Spiegelbild der Lampe im schwarzen Fensterglas. Wie viele Themen wird es noch mit Maksim zu besprechen geben, welche Woerter muessen in ihrer Bedeutung wohl noch geklaert werden, wie viele Geschichten sind zu erzaehlen? Wird er sich irren im Leben? Bestimmt. Selbststaendig denken konnte er, da war ich mir sicher. Den Mut, fuer seine Ideen einzustehen, wuerde er noch entwickeln. Ich glaubte fest, dass er Frauen stets achten wuerde, insbesondere die, die ihre eigene Meinung entwickeln konnten und nicht auf die Gedanken anderer angewiesen waren.

Vielleicht werden sie ihn auch zum schw;rmen bringen, wie es einst seine Grossmutter geschafft hatte:
„Oma, du weisst so Vieles!“
Darauf pflegte ich fuer gewoehnlich mit dem Vierzeiler von Omara Hayam zu antworten:

„Oh, mein Herz! Wie hast du Wissen stets mit Leidenschaft verlangt,
Nur wenig ungeklaerte Wunder, unerlangt.
Zweiundsiebzig Jahre nachgedacht.
Klar wurde mir, dass gar nichts Klarheit schafft.“

Blickte ich in die Zukunft, hoffte ich, er wuerde nie zu denen gehoeren, die in ihrem Stolz nur geringschaetzig mit Frauen umgehen, ihre Kraefte an ihnen ausprobieren, sie ihrer Gier, ihrem Willen und ihrer Macht unterwerfen. Von klein auf hatte er eine Freundschaft mit einer erwachsenen Frau gepflegt. Unwichtig, dass diese Frau nur seine Grossmutter gewesen war, wichtig war, wie sie sich zu ihm verhalten hatte. Vielleicht bewahrte ihn dies schon vor vielen Irrtuemern.

Ich sass am riesigen Schreibtisch, die Nacht kam naeher, ich erinnerte mich an eine Geschichte, eine von vielen tausend aehnlichen. Eine gewoehnliche, eigentlich banale Geschichte ueber die schwierigen zwischenmenschlichen Beziehungen, welche sich in jeder zweiten Familie abspielen. Diese Geschichten haben meist die gleichen Anfaenge, nur enden sie oft unterschiedlich. Und das Ende einer jeden Geschichte haengt auch davon ab, inwiefern sich die Menschen in ihren Ansichten und ueberzeugungen irren.
Ich entschied, diese Geschichte aufzuschreiben.



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* Oxymora - intentionale Verbindung unvereinbarer Bedeutungen, z.B.: lebendiger Leichnam, ausgezeichneter Mistkerl, Anm. des Autors