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Áîðèñ Êðàñèí
(Jenseits von Sulzfeld)

Sie wissen schon, worum es geht, gell?
In Sulzfeld wird zum Pfingsten gespielt, also Ende Mai oder Anfang Juni. Sulzfeld ist ziemlich weit von der Hauptstadt. Irgendwo im Osten. Zwischen Baden und Sibirien. Aber noch im Badischen. Also weiter östlich von Sulzfeld sind Sibirien, Schwabenland, China und die Pazifik.
Sulzfeld ist eine wunderschöne Ortschaft am Rande der Zivilisation.
Etwa so. Sehr stark war ich in der Geografie nie. Die ist für mich nicht schwierig, aber immer sehr langweilig. Also, ich fahre einfach streng nach Osten und früher oder später komme ich nach Sulzfeld. Vom Jenseits kommen Schwaben. Und es wird gespielt. Gnadenloses Schach. Gegen einen Schwabe kämpfe ich wie ein Löwe. Und wenn wir auf dem Brett nur noch 2 Könige haben und nix mehr, mache ich noch gemütlich einige Züge. Ist mir egal, was mein Gegner dabei denkt und sagt und schreit – so machte der kleine Bobby Fischer! Also mache ich das auch! Ich habe Recht. Keine Gnade! Der Schiedsrichter kommt und stoppt die Uhr. Ich bitte Remis an. Der Gegner gibt weinend mühsam zu. Sport vom Feinsten!
In Sulzfeld wird gnadenlos gekämpft!
Schach ist Kampf in Sulzfeld.
Und jenseits von Sulzfeld auch.
– Weisst Du, – sagt mir der kleine Löwe Tumm. – Ich verstehe nicht, warum Swidler in Moskau weiter nicht spielen wollte. Ich hätte das auf jeden Fall getan. Schach ist doch ein sehr lustiges Spiel. Du weißt schon warum, gell?
Der kleine Löwe heisst Tumm. Ich kenne den Kleinen schon lange, obwohl er nur sechs Monate alt ist. Ich habe den zwei oder drei Mal in Sulzfeld getroffen. Tumm ist sehr stark im Endspiel. Er glaubt mindestens so. Ehrlich gesagt, stimmt das überhaupt nicht! Aber der kleine Löwe Tumm interessiert sich nur fürs Endspiel. Er hat mir gesagt, wenn er im Endspiel stark wird, wird er immer gewinnen. Tumm ist sechs Monate alt. Er glaubt fest an sein Talent und seine grosse Zukunft! Wenn Sie, lieber Leser, in Sulzfeld gespielt haben, dann haben Sie bestimmt drei Löwen gesehen. Sie heissen Timm, Tomm und Tumm. Timm und Tomm sind ganz gross. Tumm ist noch ein Bub, ich meine Löwen-Bub. Der grosse Timm ist unglaublich stark in der Eröffnung. Er sitzt normalerweise vorne beim Brett eins, zwei oder drei und guckt gemütlich die Eröffnungen an. Er ist ein alter Löwe. Er ist mit allen Wässern gewaschen.
Wenn er nicht ein alter Löwe wäre, hätte ich gesagt: Der ist ein alter Fuchs in der Eröffnung.
Manchmal ist er sehr bös. Ich hab’ selber paar Mal gesehen, als er einige schlechte Spieler verschlungen hat. Das passiert immer in den ersten Runden. Nach Schweizer System spielen da Schwache gegen Starke ganz vorne und schwache Spieler haben keine Chance, klar! Und
patzen die sowieso sehr oft. Also, ich habe schon einige verzweifelte Schreie vorne gehört. Es waren schlechte Spieler, die von Timm an der Stelle gefressen wurden. Der Anblick ist natürlich fürchterlich, aber man muss auch den alten Timm verstehen: Er kennt kein Pardon, wenn ein Patzer die hohe Kunst des Schachs beleidigt.
Aber keine Panik: In Sulzfeld wird bei der Anmeldung immer Unfallversicherung gefordert. Man kann nie wissen! Und die Prämien sind mehr als beachtlich! Timm hat mich auch einmal geschluckt. Aber dann auf die Anforderung des Schiedsrichters rausgespuckt: Ich bin doch ein Anfänger!
Der alte Löwe Tomm steht mehr aufs Mittelspiel. Er macht sich immer irgendwo in der Mitte der Halle gemütlich und zerreist ab und zu auch einige Versager. In 2001 waren es 17! Rekord! Mamma mia! Die Versicherung war fast pleite! Aber dann kam die Asienkrise und das Turnier wurde dadurch gerettet. Aber das ist schon interne Informationen. Klar. Tomm hört auf niemanden! Keine Gnade! Durchaus verständlich – der Löwe ist schon 30 Jahre alt. Er diskutiert nicht. Das ist einfach nicht sein Niveau. Verstehe.
Der kleine Löwe Tumm legt sich lässig neben mir nieder und guckt das Spiel an. Er schätzt mein Endspiel. Aber ab und zu, wenn ich patze, kann er auch kräftig beissen! Hab’s schon erlebt. Aber ansonsten ist er ein nettes liebevolles Schach-Löwle ohne wenn und aber.
Tumm hat mir schon einmal gesagt, dass er Endspiel noch nicht so gut spielt wie Bobby Fischer, aber viel besser als Bobby in seinem Alter.
Das glaube ich ihm auch. Da hat Tumm auf jeden Fall Recht. Die Löwen sind sehr gescheite Tiere. Besonders in Sulzfeld. Timm und Tomm sind schon alt, aber ihr Enkel Tumm ist noch sehr klein und lernt noch Endspiel.
Ich glaube, er hat gute Chance, irgendwann für deutsche Nationalmannschaft zu spielen.
Er spielt mutig und kämpferisch. Und wenn er verliert, beisst er den Gegner ganz ordentlich. Aber keine Angst, in Sulzfeld spielt er nicht. Timm und Tomm auch nicht. Die kommen einfach zum Gucken, Lernen und zum etwas Fressen. Tomm hat mir einmal gesagt, die Schachspieler in Sulzfeld sind sehr lecker. Besonders die, die aus dem Schwäbischen
kommen. Wegen Spätzle vielleicht. Weiss ich net genau. Ich bin kein Löwe und kein
Kannibale. Vielleicht hat Tomm Recht, und die Schwaben schmecken viel besser als z. B.
Elsässer oder Kurpfälzer. Ich glaube dem einfach. Der ist ein alter Löwe aus Sulzfeld und hat schon sehr viele Patzer verbraucht. Ich habe vor den Löwen keine Angst. Timm hat mir einst gesagt, er hat mal einen Aussiedler gegessen und dann drei Monate lang Durchfall gehabt. Will nie mehr!
Nein, nein, nein!
Ekelhaft sind diese Aussiedler, so der alte Löwe Timm, er wisse nicht, was die im Osten das ganze Leben lang alles essen! Obwohl, gab er zu, in der Eröffnung sind die ganz ordentlich. Anderes Niveau, meint er – der alte Löwe Timm aus Sulzfeld.
Ich hab’ vor dem keine Angst: Ich weiss, dass er weiss, dass ich ein Aussiedler bin. Und er weiss, dass ich weiss, dass er weiss.
Ab und zu gibt er mir einige Tipps und schätzt meine Eröffnung ziemlich hoch. Nur nicht, wenn ich Schwarz habe. Dann wird der alte Löwe einfach bös’ und geht woanders hin. Er hasst mein Königsindisch!
– Siehst du, – sagt mir der kleine Löwe Tumm. – Ich habe mir zwei Varianten aus Moskau angeschaut. – Schwarz muss mit dem Bauern oder mit der Dame schlagen. Wenn er die erste Variante wählt, kommt es schnell zum Remis, aber da muss schon Weiss fürs Unentschieden schwitzen. Die zweite Variante verspricht sehr scharfes Spiel, aber wieder mit besseren Aussichten für Schwarz.
Der kleine Löwe zeigt mir die Varianten.
Er weiss, Endspiel ist meine erste Liebe. Was heisst Liebe, versteht Tumm noch nicht. Aber er ahnt, es müsse eine ganz schlimme Krankheit sein. Die macht faul, arm und unglaublich dumm und danach schon für immer unglücklich. Tumm will es nicht erleben. Er sagt, er will gegen die Liebe geimpft werden. Dann klappt im Leben alles fantastisch gut.
Tumm – der kleine Löwe aus Sulzfeld – ist manchmal sehr gescheit.
Das muss man zugeben.
Aber ich habe dem gesagt, vielleicht muss man trotzdem einmal probieren. Hab’ doch gehört: Eine unglückliche Liebe einmal erleben ist viel besser als gar keine. Tumm nickt mir zu und sagt, dass er es bei Opas Tomm und Timm fragt.
Da sind seine Varianten zur Partie Morosewitsch – Swidler, die in Moskau gespielt wurde.
Im letzten Zug schlug Weiss den Springer auf d6 und bat Remis an.
Schwarz nahm das Angebot an.
Der kleine Löwe Tumm analysierte zwei mögliche Fortsetzungen.
12


A) 1.Sxd6 Dxd6 2.Dxd6 Txd6 3.Td3 Ta8 4.Kg2 h6 5.c5 Td5 6.Th4 Txc5 7.Lxc6 Txc6
8.Thxd4 Tca6 9.Td7 c5 10.Txb7 Kg7 11.Tdd7 Tf6 12.f4 Ta3 13.Tbc7 Tf5 14.Td3 Kf6 15.Tcd7 Ta6 16.Kf3 Te6 17.g4 Txf4+ 18.Kxf4 g5+ 19.Kg3 Kg6 20.T7d5 h5 21.Txc5 hg 22.hxg4 1-0;
B) 1.Sxd6 cd 2.Dh6 f5 3.Th4 Dg7 4.Dd2 g5 5.Th5 f4 6.Ld5+ Kh8 7.g4 Tde8 8.b4 Te7 9.Lxc6 bc 10.Dxd4 Dxd4 11.Txd4 c5 12.bc dc 13.Td5 Tc8 14.Kg2 Ta7 15.Tdxg5 Ta4 16.Te5 Txc4 17.Te7 h6 18.Txh6+ Kg8 19.Thh7 Tc1 20.h4 Tc6 21.h5 f3+ 22.Kxf3 Tf6+ 23.Ke2 Te6+ 24.Txe6 Kxh7 25.f4 Tg1 26.Kf3 Tf1+ 27.Kg3 Tg1+ 28.Kh4 Ta1 29.Te7+ Kg8 30.g5 Td1 31.g6 Kf8 32.Tc7 1-0.

– Moment mal, Tumm! – Schreie ich! – Aber in beiden deiner Varianten gewinnt doch
 Weiss! Warum hat er dann Remis angeboten???
Tumm guckt mich etwas verblüfft an. Dann gibt er das Missverständnis sauer zu und schläft neben mir gemütlich ein.
Er wartet auf meine Partie.
Mein Gegner kommt, schaut besorgt auf Tumm und gibt mir die Hand.
– Mach’ dir keine Sorgen. – Sage ich dem Gegner. – Tumm will nur mein Endspiel angucken. Und er hat heut’ Morgen schon den alten Löwen Timm und Tomm beim Verzehren eines Patzers redlich geholfen.
Der Gegner sieht schon etwas ruhiger aus und es geht los.

Autor – BSF:
1. d4 d5 2. c4 e6 3. a3 Sf6 4. Sc3 Le7
Die Partie wurde am Nachmittag gespielt. Die Spieler sind zu dieser Zeit ziemlich müde von früherer Partie und spielen nicht so frisch. Aber ich will natürlich nichts übertreiben – am Morgen sind die auch nicht so gut nach dem langen Schlafen, Hin- und Zurückfahren, und wenn jemand noch am gestrigen Abend bis zum Umfallen kämpfte ist auch schon fast kaputt! Und wer gestern nach einem langen Kampf dazu noch verlor, der ist nicht nur einfach müde, der ist noch total sauer! Das habe ich paar Mal selber erlebt! Mann, ist das Leben nachher fürchterlich!
Meine Schwiegermutter hätte so etwas bestimmt nicht überlebt.
Sie ist eine wunderbare Frau, aber spielt leider kein Schach!
Schade, schade.
Der kleine Löwe Tumm weiss das sehr gut: seine beiden Omas haben Schach gespielt, es endete, klar, in einem Desaster. Die alten Löwen Tomm und Timm wurden sehr früh Witwer. Also blieben sie ganz allein. Tumm sagt, seine Opas werden lange leben und gemütlich und in aller Ruhe Schach geniessen. Das ist durchaus möglich, sage ich dem Tumm, die Löwen machen so einen friedlichen und seligen Eindruck! Tumm schläft neben mir. Meine Eröffnung interessiert ihn wenig.
Aber warum hat mein Gegner dc nicht gespielt? Das ist doch ein fetter Gambitbauer, man kann den immer ruhig zurückgeben!
5. Lf4
Früher habe ich immer 5. Lg5 gespielt, aber der Läufer steht schon auf e7, ich kann mit dem Zug nicht viel anfangen. Und Lf4 ist zur Zeit ziemlich populär, hab’ ich gehört.
5. … Ld6
Da weiss ich schon net, was Schwarz damit erreichen will. Den guten Läufer will ich noch nicht tauschen.
6. Lg5 Le7
Aha! Ich hab’ Weiss und noch einen Gegner, der schon in der Eröffnung so zaubern kann! Und wenn ich wieder Lf4 spiele? Was macht er dann? Diese Frage macht mich sehr lustig! Tumm macht die Augen auf, steht auf und schaut das Brett an. Mein nächster Zug enttäuscht ihn sichtlich und er geht spazieren durch die Halle, wo seine Opas Tomm und Timm sich auf einen Lunch vorbereiten.
7. e3 Sbd7 8. c5 e5
In dem Moment hören wir plötzlich einen fürchterlichen Schrei! Mein Gegner wird ganz
blass. Ich sehe den Löwe Tomm, wie er einen Schachspieler schnell zum Ausgang schleppt. Ich kenne den, verdammt! Das ist doch Klaus aus Mühlacker! Der muss gepatzt haben! In der Halle wird es ganz still. Tomm verschwindet mit dem Klaus. Timm und Tumm eilen auch nach draussen. Klaus ist ziemlich beschwichtige Person. Jetzt nicht mehr. Oder genauer gesagt, nicht lange. Aber mit ihm verliert das badische Schach etwas und dieses etwas tut mir sehr leid. Leb wohl, Klaus. Der war immer sehr fair am Brett.
– Ich kenne den. – Sage ich dem Gegner. – Das ist Klaus aus Mühlacker. Ein fürchterlicher Patzer, glaub mir! Ich verstehe den alten Löwe Tomm, der duldet in der Eröffnung so etwas einfach nicht.
Der Schiedsrichter nimmt vom Fussboden die Brille von Klaus und es geht weiter.
Ja, verdammt! Das Leben geht weiter!
Der letzte Zug von meinem Gegner gefällt mir: Es wird schon in der Eröffnung scharf gespielt!
9. Sb5 c6 10. Sd6+ ?!
Ich weiss, es ist sehr riskant, das zu machen, aber warum nicht? Sie sehen doch wie mein Gegner Eröffnung bis jetzt gespielt hat. Ich riskiere etwas! Aber was könnte besser sein?
Vielleicht die Variante ...

Ein Moment! Ein Moment!
Sehen Sie, lieber Leser, das Buch, wenn es auch ein Schachbuch ist, muss geschrieben werden. Einfach so. Stellen Sie sich vor, da sitzt irgendwo in Baden ein Schachspieler, der dieses Buch schreibt.
– Was heisst „schreibt“? – Werden Sie fragen!
Ganz einfach: Der Typ sitzt da und tippt. Er tippt da alles, was er erlebt hat, was er erleben will. Er tippt seine Vergangenheit, seine Gegenwart und die Zukunft, seine Probleme und Schwierigkeiten, und Hoffnungen auch. Er sitzt da und tippt. Das ist seine letzte Barrikade. Es gibt kein Zurück, mindestens, er sieht das alles so. Er muss das tippen.
Stellen Sie sich das vor: Ein dunkles Zimmer, ein billiger Laptop auf dem Tisch, Tischlampe, eine Flasche Wodka, ein Glas, ein altes Schachbrett, etwa halb drei Uhr nachts. Warum macht er das? Welchen Sinn hat es?
Tja, Sie wollen von mir eine ehrliche Antwort? Ich muss lachen! Die Antwort ist ganz
primitiv: Ich weiss es nicht! Einfach so. Heute ist den 31.12. 2004 – Sylvesternacht.
Eigentlich, den 01.01.2005. Schon fast drei Stunden. Deshalb habe ich eine Flasche Wodka auf dem Tisch, ein Glas, ein altes Schachbrett und mein Leben auf diesem Brett. Und eine Stimme aus dem All sagt mir, dass ich das einfach tun muss!
Ich weiss, worum es geht.
Ich weiss, wer mir diesen Auftrag angehängt hat. Ich hab’ nichts unterschrieben, aber ich weiss, mit wem ich diesen Vertrag abgeschlossen habe!
Ich bin ein Schachspieler.
Es kann nicht anders sein. Ha, was haben Sie denn erwartet? Von einem Anfänger!
Also, ganz einfach: Augen zu und durch! Andere Varianten gefallen mir nicht. Und wenn mich jemand später fragt, warum ich etwas anderes nicht wollte, kann ich nur die alten Worte wiederholen: „Weil i net hab’ woll’n. Wenn mi’ einer fragt, warum mogst’ net, sag i, weil i net mog. Das ist in Bayern eine ausreichende Antwort.“
Eiserne Logik, gell? So war einst der Herr Ministerpräsident Dr. h. c. Franz Josef Strauss. Sein Portrait hang einst bei mir auf dem Schrank in Südrussland. Da hab’ ich noch mir gedacht: Der Bursche ist gar nicht so bequem, aber sehr ehrlich! Und Schach spielte er auch ganz ordentlich. Vielleicht. Okay, ich trinke noch einen Schluck und mach’ weiter. Verstehen Sie, die Stimme aus dem All ... Na ja ...

10. Sd6+ ?!
13


Ach ja, Entschuldigung, es waren auch andere Varianten möglich, z.B.:
1.de Sxe5 2.Dd4 Sed7 3.Sd6+ Kf8 4.Se2 Sxc5 5.Lxf6 gf 6.Sxc8 Se6 7.Da4 Dxc8 8.Dh4 Dd7 9.Td1 f5 10.Dh3 Lf6 11.Td2 Kg7 12.Dg3+ Kh6 13.Dh3+ Kg6 14.Dg3+ Kh5 15.Dh3+ Kg6 16.Dg3+ Kh5 17.Dh3+ Kg6 Remis.
Aber genau das mache ich nicht! Ich will doch gewinnen! Und nicht vergessen: Sie haben
bestimmt gesehen, wie mein Gegner eröffnet, gell? Also, der letzte Zug gilt.
10. ... Lxd6 11. cd e4
Ich glaube 11. ... ed wäre viel besser und wenn 12.Dxd4 einfach Sb6.
Aber was sonst: Der Weg nach oben und nach unten ist derselbe, wie noch Heraklit sagte!
Die Flasche ist schon ganz leer.
Weiter kommt ein im Damengambit obligatorischer Zug, wenn ich so sagen darf.
Die Stimme aus dem All: Du darfst!
Na ja. Danke auch, was sonst!
12. Dc2 Sb6 13. Dc5 Sbd7 ?!
Ne, der Mann macht mich verrückt! Einmal ganz ehrlich, will er spielen oder net?! So viel
Angst darf man doch vor mir nicht haben!
14. Dc2 Sb6 15. Lf4! Sh5! 16. Le5! f6!! 17. Le2
Da hab’ ich lange überlegt, vielleicht wäre De2 viel besser?
Z. B. 17.De2 fe 18.Dxh5+ g6 19.Dxe5+ Kf7 20.De7+ !!
Aber auf jeden Fall ist die Stellung unglaublich kombinationsgeladen. Man kann alles probieren und riskieren und weiter kämpfen! Das macht Schach zur Kunst und zum Sport!
Aber dann kommt die Prosa, o weh!
17. … fe 18. Lxh5+ g6 19. Lxg6+!!
Entschuldigung, ich weiss schon nicht so genau, was diese betrunkene Stimme aus dem All mir alles gemurmelt hat! Es hat mich irgendwie schon nicht so ganz interessiert: Wenn die da oben in der Silvesternacht viel trinken, was hat es mit mir zu tun, gell? Und der kluge bescheidene Klaus aus Mühlacker hat mir immer so zärtlich gesagt: Boris, Du hast Recht!
Und wissen Sie, da hab’ ich immer ihm geglaubt. Ich werde Tumm noch erzählen, was für einen brillanten Schachfreund der Badische Schachverband heute verloren hat! Und Tumm wird es tiefst bedauern. Glauben Sie mir! Ich kenne den Kleinen!
Oh, ich kann mir auch gut vorstellen, wie die Schwiegermutter von Klaus ganz bitter weinen wird! Oh! Oh!! Oh! Und das ganze Geld abkassieren! Und danach wieder weinen und heulen!
Moment, hab’ ich etwas verwechselt? Kommt der Klaus etwa aus Karlsdorf?
19. … hg 20. de
Voila! Das macht Spass!
Ein Grossmeister muss diese Stellung schon locker gewinnen! Egal, welche Farbe er eigentlich hat!
Mensch! Schach ist so süss!
20. … Dg5 21. Dc3
Es droht einfach 22.e6!
21. ... Le6 22. g3 Sc4 23. Se2 Dxe5 24. Sd4 Sxd6? 25. Sxe6!
Na ja, Schwarz muss jetzt einfach seufzen: Das Leben ist schön, aber zu kurz! Plötzlich hab’ ich alles zurück bekommen!
Ach, diese zauberhafte Silvesternacht!
Natürlich kommt 25. ... Dxe6 nicht in Frage! Dann folgt 26.Dxh8+ und Schwarz kann aufgeben!
Ich kann an dieser Stelle noch stolz erwähnen: Das Publikum hat nach dem Zug von Weiss (So unglaublich bescheiden bin ich heut’ – Silvesternacht! Ich hab’ nicht geschrieben: Nach meinem Zug!) einfach geschrieen!
Okay, die Flasche ist leer, ich hole mir eine Tasse Tee.
Tumm kommt auf Geschrei zurück, guckt die Stellung an und lacht.
– Boris, ich mag Dich! – Sagt der kleine Löwe Tumm.
Ich hab’ nichts dagegen. Ich mag es auch, beliebt zu sein! Wenn ich dafür auch keinen Pfennig bekomme. So ist das Leben.
– Eben! – Flüstern mir die Stimmen aus dem All.
Wer bezahlt die da oben?!
25. ... Dxc3+ 26. bc Ke7 27. Sf4 Kf6 28. h4 g5
Da hat mir mein Gegner Remis angeboten. Klar, ich spiele weiter! Der muss doch einfach patzen! Strategisch gesehen, ganz kluge Entscheidung!
29. hg+ Kxg5 30. Ke1 Txh1 31. Txh1 Sb5 32. Se6+ Kf5?
Na ja, alle Geschenke werden gerne verbraucht. Tumm seufzt und schläft ein.
33. Sd4+ Sxd4+ 34. ed Kg4 35. Tb1
Ehrlich gesagt, fühle ich mich im Turmendspiel ganz sicher. Sehen Sie, ich hab’ einfach sehr viele taktische Bücher durchgecheckt. Ich kann nicht sagen: Ich bin im Turmendspiel unglaublich stark, aber wenn es dazu kommt, spiele ich ganz locker. Ich weiss, meine Endspiel-Stärke liegt irgendwo bei der DWZ 2000. Es macht einfach Spass!
35. … b6 36. Th1 Tf8? 37. a4 Tf3 38. Tc1 Td3 39. Kf1 Td2 40. Ta1 Tc2 41. Ta3 Kg5
42. a5 b5 43. a6
Ich muss zugeben, irgendwo hier habe ich meinem Gegner Remis angeboten. Er hat abgelehnt: Er riecht schon das süsse Blut des Sieges!
Das gehört zum Sport! Was sonst?
43. ... Kg4 44. Tb3?
Und wenn primitives 44. ... Ta2 kommt?
Entschuldigung, aber ich habe schon keine Wahl, ich bleibe einfach auf dieser Horizontale in der Hoffnung auf Kf3 von Schwarz. Kann man etwas besseres vorschlagen? Aufgeben? Kann man immer machen, also ich mache noch paar Züge ...
44. ... Kf3??
14

Weiss zieht ...

„Augenblick, verweile doch, du bist so schön ...“
Ach, lieber Leser, glauben Sie mir, das Publikum hat einfach geschrieen und geweint. Da hat auch Tumm mit Besorgnis aufs Brett geschaut. Timm und Tomm waren auch schon da! Und
plötzlich hab’ ich kapiert, wie wenig Minuten bis zum Ableben meines Gegners geblieben sind ...
– Nur keine Panik! – Sagt mir die Stimme aus dem All!
Die raue Stimme ist einfach zu laut! Alle gucken erstaunt nach oben. Ne, ganz normale Decke!
Dieser Ort heisst Sulzfeld. Ein wunderschöner Ort am Rande der Zivilisation.
Ich reagiere ganz cool. Es folgt noch
45. c4+
Ach, du meine Güte! Mein Gegner sieht noch das Schach dem König nicht! Er macht 46. ...
Tc1 und sagt ruhig: Matt. Matt. Matt.
So etwas kann ich normalerweise ganz gut dulden!
Abgesehen von unerträglichem Schwätzer, der im „Fritz 7“ sitzt!
Ich entschuldige mich, und mache meinen Gegner darauf aufmerksam, dass sein König im Schach steht.
O weh! O weh! Der arme Tropfen versteht die Welt nicht mehr!
Restliche Züge mache ich im Sekundentakt.
45. ... Kg4 46. cb cb 47. Txb5 Ta2 48. Txd5 Txa6 49. Te5 Kf3 50. Tf5+ Kg4 51. Tf4+ Kg5 52. Txe4 Ta1+ 53. Te1 Ta2 54. Td1 a5 55. d5 Tb2 56. d6 Tb8 57. Tb5+ Kf6 58. Txa5 Ke6 59. Ta6 Td8 60. Kg2 (1-0).
Ach, lieber Leser, natürlich konnte Schwarz viel besser spielen. Natürlich musste am Ende Schwarz gewinnen. Ganz klar! Aber das ist Sport. Das ist Schach. Und nicht vergessen: So einfach bin ich auch nicht, gell?!
 
– Siehst Du, – sagt mir der kleine Löwe Tumm, wenn wir zum Bahnhof gehen. – Ich wollte den Kerl schon kräftig beissen, aber dann hab’ ich mir anders überlegt. Er hat doch verloren, er war schon ziemlich traurig und angeschlagen, was könnte da mein kräftiger Biss noch bewirken? Ich hab’ den nicht gebissen. Aber nächstes Mal muss ich das auf jeden Fall tun. Meinst Du auch so?
Der Weg zum Bahnhof ist nicht lang, aber es kostet etwa 20 Minuten. Es regnet leicht. Der kleine Löwe Tumm erklärt mir, wie ich eigentlich aus dem Jenseits von Sulzfeld nach Sulzfeld komme. Ich muss einen Spiegel finden und einfach reingehen. Tumm wird aber vorher mit dem Spiegel einen kleinen Trick machen. Ein nasses Glas, meint er, reicht auch. Ich sage Tumm, dass ich mich aber nicht erinnern kann, wie ich nach Jenseits von Sulzfeld kam. Das gehört zum Trick, erklärt mir der kleine Löwe Tumm.
– Weisst Du, – sagt mir Tumm. – Hinter jedem Spiegel gibt es eine Welt, eine ganz andere Welt. Meine Welt findest Du nur hier in Sulzfeld, und zwar, wenn Du in den Spiegel am Bahnhof reingehst. Ich brauche dafür nur einen kleinen Trick. Aber der Regen macht den auch nicht nötig. Also bis dann! Du hast gut gespielt. Andere waren heute nicht so gut. Meine
Opas Timm und Tomm haben heute acht Schachspieler verzehrt! Dies Turnier in Sulzfeld
ist für die Löwen einfach fantastisch gut! Man muss nur ein bissle Schach spielen können. Ich
schenke Dir noch eine Dose Bier. Mach’s gut! Komm’ nächstes Jahr wieder! Aber taktisch
bist Du noch sehr schwach, sagt mein Opa Timm, aber Du hast Zeit. Ich kann Dir noch ein Endspiel von Bobby Fischer zeigen, wenn Du willst.
Tumm erklärt mir die Stellung und ich probiere die Züge von Bobby Fischer zu kapieren.
Es regnet leicht. Ich sitze am Bahnhof in Sulzfeld, trinke Bier aus der Dose und warte auf die S-Bahn. Nicht weit von mir stehen drei Schachspieler und besprechen laut offensichtlich eine Partie.
Nein! Das kann doch nicht wahr sein: In einem von denen erkenne ich Klaus aus Mühlacker! Und seine Brille hat er auch! Aber ich hab’ doch selber gesehen wie ... Und andere 200 Spieler haben das auch gesehen und miterlebt! Oder ist es der andere Klaus, etwa aus Karlsdorf? Oder nur sein Geist? Weiss schon net genau.
Aber das Endspiel von Bobby Fischer ist sehr interessant. Tumm hat leider eine falsche Variante gewählt. Na ja, das Löwle ist nur sechs Monate alt. In seinem Alter war Bobby auch nicht so gut, klar!
Ich geniesse meinen Erfolg.
Die Bahn kommt.
Auf Wiedersehen, Sulzfeld. Auf Wiedersehen!