Das kleine Cafe

Õåëüþ Ðåáàíå
DAS KLEINE CAFE

    Ein Traum... Wie Nebelschwaden ziehen die Tra"ume voru"ber.
    Doch dieser Traum kommt hartna"ckig immer wieder.
    ...Eine menschenleere Gasse. Akkurat gestutzte Pappeln. Alte graue zweisto"ckige Ha"user. Der Wind treibt die Herbstbla"tter u"ber das Kopfsteinpflaster. Ich gehe die holprige Strasse entlang und mir ist grundlos schwerm"utig ums Herz. Die Bla"tter rascheln unter den Fu"ssen. Der Wind zaust in meinen Mantelsch"ossen.
    Ich gehe auf eines dieser zweist"ockigen H"auser zu, das aussieht wie alle anderen. Darin ist unten ein kleines Cafe.
Zwei halbzerfallene Stufen. Die graue Farbe an der Tu"r ist schon fast abgebla"ttert und la"sst die regenfeuchten Bretter zutage treten. Ich o"ffne die Tu"r...
    In dem weichen Halbdunkel des kleinen Raumes brennt eine orangefarbene Leuchte. Um die kleinen Tische stehen im Halbkreis Sessel. Es ist kein Gast da. Der Platz hinter dem Tresen ist leer. Ich setze mich an einen Tisch, zünde mir eine Zigarette an und warte.
Ich versinke im Halbdunkel, wie das so ist im Traum. Ich kann nicht von hier fortgehen, ehe nicht all das passiert, was passieren muss.
Sie erscheint. Ihr Gesicht... Nur verschwommen sehe ich einen hellen Fleck, sehe die schulterlangen hellen Haare. Ich kann nicht erkennen, was sie an hat. Nur ein undeutlicher orangefarbener Fleck verschwimmt vor meinen Augen.
Sie setzt sich gegenüber hin, und ich spüre ihren unablässigen Blick auf mir. Ich senke die Augen und sehe die schmalen Finger auf den Tisch klopfen. Irgendetwas beunruhigt sie. Ich muss ihr Gesicht sehen. Doch es schimmert kaum erkennbar weiß in der Dunkelheit. Fu"r einen Augenblick werden ihre Züge klarer, ich sehe ihr Gesicht deutlich und versuche krampfhaft, es in Erinnerung zu behalten, doch es verschwimmt wieder im Dunkeln. Es bleibt nur ein Fleck, von dem eine unbegreifliche Erregung ausgeht. Er schwebt davon, entfernt sich von mir, und weg ist er. Ich sitze allein, bin erregt und beunruhigt.
Pl"otzlich spüre ich, dass hinter mir jemand steht. Ich wende mich um... Nein, sie ist es nicht. Das ist die Kellnerin. Sie heisst Lina. Sie sieht mich schweigend an. Ich m"ochte fragen:
„Wer ist sie? Wer ist sie, Lina?“, aber ich bringe kein Wort heraus.
Lina sieht mich seltsam und fremd an. Sie wartet auf irgend etwas. Ach ja, ich muss bestellen.
    „Einen Kaffee und einen Kognak“, kann ich endlich sagen.
Im orangefarbenen Dämmerschein steht ein Ta"sschen aromatischen Kaffees vor mir, im Glas funkelt golden der Kognak.
„Lina, wer ist sie?“,  frage ich aufgeregt.
Doch Lina schweigt. Ihr Blick ist abwesend und teilnahmslos und versta"rkt meine zunehmende Erregung, ich schreie: „Lina! Wer ist sie?“

...Ich erwache. An den Fensterscheiben la"uft der Regen in Strömen herunter. Dieser Traum... Ich kann nicht anders. Ich weiss, dass ich heute wieder in dieses Cafe gehen werde.
Es gibt diese Strasse und dieses Cafe wirklich in unserer kleinen Stadt.
Das kleine Cafe liegt am äußersten Stadtrand, wohin ich vor etwa einem Jahr zufällig geraten war. Dort gibt es weder einen orangefarbenen Leuchter noch die Sessel. Die Kellnerin heißt wirklich Lina. Wir haben  uns kennen gelernt, als ich das erstemal dort war. Es war kein Gast im Café und wir haben ein paar belanglose Sätze gewechselt.
Das ist stärker als ich. Immer, wenn ich diesen Traum habe, gehe ich morgens, grundlos aufgeregt, in das kleine Café, setze mich an den unansehnlichen grauen plastikbeschichteten kleinen Tisch, der wacklig auf seinen dünnen Metallbeinchen steht, und warte auf irgend etwas... Ich weiß, es wird nichts passieren.
Unsere Stadt... Das ist eine Kleinstadt, in der niemals irgend etwas passiert. Eine ruhige kleine Stadt mit einsamen Gassen und gestutzten Pappeln.
Ich gehe zum Spiegel und sehe unverwandt in mein Gesicht.
Mit meinen neununddreißig Jahren... Ich habe nichts zu erwarten. Alles, was in meinem Leben passieren sollte, ist bereits passiert. Vor drei Jahren starb meine Frau. Meine Tochter hat geheiratet und ist in eine andere Stadt gezogen. Meinen Freund habe ich im vergangenen Herbst zu Grabe getragen... Und jetzt sind da nur noch die menschenleeren Gassen, die gestutzten Pappeln und... das kleine Café am Rande, wohin außer mir niemand geht.
Ich ziehe den neuen grauen Anzug an, das dunkelblaue Hemd und binde den orangefarbenen Schlips um. Ich trage ihn kaum, aber diese Sachen hatte ich an, als ich mich das erstemal in dieses Café verlaufen hatte.
Es war mein Geburtstag, die Kollegen im Krankenhaus hatten mir gratuliert, wir saßen noch eine Weile beieinander und gingen dann allmählich auseinander und heimwärts.
Festlich gekleidet, mit einem Strauß roter Nelken in der Hand und leer im Herzen machte ich mich auf den Heimweg. Doch aus unerklärlichen Gründen bog ich in eine einsame Gasse ab, dann in die nächste, schließlich in die dritte...
Ich merkte nicht einmal, wie ich plötzlich an den äußersten Rand unserer kleinen Stadt gelangt war. Der Wind trieb finstere Herbstwolken über den Feldern außerhalb der Stadt zusammen und es fielen bereits die ersten dicken Regentropfen, die dunkle Flecken im Staub hinterließen. Ich wollte nach Hause umkehren, doch da fing es plötzlich an, wie aus Kannen zu gießen. Ich blieb stehen, sah mich um, wo ich mich unterstellen könnte, und bemerkte plötzlich das unscheinbare Schild über der grauen Tür. Die verblichenen Buchstaben waren kaum zu erkennen. „DAS KLEINE CAFÉ“ las ich erstaunt.
Ich öffnete die Tür. Wirklich klein. In dem winzigen Raum herrschte Halbdunkel. Die Frau am Tresen warf mir einen gleichgültigen Blick zu und vertiefte sich wieder in ihr Buch. Über ihrem Kopf hing an einem langen Kabel eine Lampe unter einem staubigen Schirm. Ich setzte mich an einen Tisch, legte die nassen Nelken darauf und bestellte einen Kaffee und einen Kognak. Sie brachte den Kaffee und fragte gähnend:
„Haben Sie Ihren Schirm vergessen?“
„Ja.“
Sie sah verschlafen und schlampig aus. Ich weiß selbst nicht, weshalb ich sie nach ihrem Namen fragte.
„Lina. Und Sie?“
„Karl.“
Sie ging hinter den Tresen zurück und vertiefte sich wieder in ihr Buch. Bald ließ der Regen nach und ich beschloss, nach Hause zu gehen. An der Tür fiel mir ein, dass ich mich nicht verabschiedet hatte, und ich wandte mich zurück:
„Auf Wiedersehen, Lina!“
„Auf Wiedersehen“, antwortete sie, ohne den Blick von dem Buch zu wenden.
Als ich schlafen ging, fiel mir ein, dass ich den Strauß auf dem Tisch in dem Café vergessen hatte. Orangefarbene Nelken. Wieder schlug der Regen ans Fenster, und ich schlief ein. In dieser Nacht hatte ich zum erstenmal meinen Traum...

...Es klingelt an der Tür. Seltsam. Ich erwarte niemanden. Ich öffne – eine Frau in einem nassen Sommermantel mit einer Ledertasche reicht mir über die Schulter ein Blatt:
„Unterschreiben Sie!“
Ein Telegramm... Ein Telegramm.
„Was haben Sie? Das ist doch ein Glückwunschtelegramm!“
„WÜNSCHE GLÜCK...  MAMA.“
Heute ist Sonntag. Auf Arbeit hätten sie mich schon daran erinnert... Nicht mehr neununddreißig. Vierzig.
... Ich nehme den Schirm und verlasse das Haus. Der Regen schlägt ins Gesicht, der Wind zaust wütend an den Mantelschößen. Die Blätter treiben vor den Füßen einher. Herbst. Ein früher kalter Herbst.
In unserer kleinen Stadt ist alles nahe beieinander. Die Post und das Telegrafenamt sind im Nebenhaus. Hier ist auch keine Menschenseele. Die Telefonistin erinnert mich irgendwie an Lina. Ich werde sofort mit Mama verbunden. Im Hörer rauscht und knackt es. Aus Langeweile hört die Telefonistin dem Gespräch zu.
„Danke... Danke, Mama. Ja... ich habe alles entschieden.“
Ein fernes Tuten, ein Knacken und unser Gespräch ist unterbrochen.
Die Telefonisten gähnt und sagt:
„Irgendwo ist Gewitter. Da kann man nichts machen – Herbst.“
„Ja, natürlich. Herbst“, antworte ich und gehe hinaus.
Ich habe alles entschieden. Ich ziehe in die Stadt um, in der meine Mutter lebt. Hier hält mich nichts mehr. Doch unwillkürlich biege ich in eine Gasse ein, dann in die nächste... Die Pappeln ducken sich düster unter den Windstößen. Und da ist auch schon „DAS KLEINE CAFE“.
Ich öffne die Tu"r... Das regentrübe Herbstlicht, das kaum durch die staubigen Fenster dringt, beleuchtet matt die grauen plastikbeschichteten Tischchen. Lina sitzt einsam hinter dem Tresen. Alles ist wie immer. Nein. Irgend etwas ist anders. Ein Blick.
Ich drehe mich nach der Seite, von wo der  Blick kommt. Da sitzt jemand an dem kleinen Tisch ganz in der Ecke. Ich mache einen Schritt in Richtung dieses Blickes. Ein Mädchen in einem orangefarbenen Pullover. Das ist  sie. Das kann nicht sein. Das ist der Traum.
„Setz dich“, sagt sie.
Ich setze mich gehorsam.
Sie nimmt meine Hand in ihre ku"hlen Ha"nde und sieht mich la"chelnd an.
„Du ... bist mir .... im Traum erschienen.“
„Ja?“, la"chelt sie.
„Wie... heisst du?“
„Anna.“
„Und ich heiße...“
„Karl“, sagt sie la"chelnd.
Das ist natürlich ein Traum. Nur ein Traum.
„Das ist ein Traum!“, sage ich verzweifelt.
„Ein wunderbarer Traum.“
Sie macht sich über mich lustig! Nein. Sie lächelt glücklich. Jemand steht hinter mir. Ich drehe mich jäh um und sehe Lina. Sie wartet schweigend. Es lässt sich nicht ändern. Dieser Traum ist ein für allemal vorgegeben, und um aufzuwachen, muss man wieder all das machen, was vorherbestimmt ist... Ich will aber nicht wieder aufwachen. Ich will nicht!
„Ich  - wie immer“, sagt Anna. „Und Du, Karl?“
Ich schweige.
„Einen Kaffee und einen Kognak“, sagt sie zu Lina.
„Ein Traum“, sage ich verzweifelt. „Das ist ein Traum.“
„Was für ein Traum, Karl?“, lächelt Anna.
„Tu nicht so! Du weißt doch auch, wie es weitergeht. Du verschwindest.“
Ich entziehe ihr meine Hand und stehe auf. Vor mir steht Lina mit dem Tablett. Mir schwinden die Kräfte. Ich setze mich wieder hin.
Anna sieht mich ernsthaft an. Lina stellt den Kaffee auf den Tisch und geht weg. Einen Augenblick später kommt sie mit einem Strauß roter Nelken wieder und streckt ihn mir lächelnd entgegen.
Will sie sich über mich lustig machen... Weshalb? Weshalb bin ich immer wieder dazu verdammt, diesen Traum zu sehen?
„Weshalb, Anna?“
„Ich gratuliere dir zum Geburtstag, Karl!“
Auch das weiß sie. Im Traum ist alles möglich. Ich kann aber nicht mehr, ich muss aus diesem Traum herausfinden!
„Karl“, sagt Anna. „ich bin fast jeden Abend hierher gekommen und habe auf dich gewartet.“
„Das ist ein Traum“, sage ich.
„Was fu"r ein Traum, Karl?“
„Woher weisst du, wie ich heisse? Woher weisst du, dass ich heute Geburtstag habe?“
Anna sieht mich la"chelnd an.
„Ich habe geho"rt, wie du zu Lina sagtest: ‚Und ich heisse Karl’.“
„Wann hast du das geho"rt, Anna?“
Anna la"chelt und sagt:
„Das ist doch so ein kleines Cafe. Ich habe es geh"ort, als du es zu Lina sagtest“.
„Wann?“
„Du weisst es also nicht... Genau vor einem Jahr. Ich fühle mich zu Hause manchmal so einsam, und dann gehe ich in dieses Café. Ich wohne hier ganz in der Nähe. An jenem Tag habe ich genau hier gesessen. Ich habe auf etwas gewartet, ich weiß selbst nicht, worauf. Plötzlich wurde es dunkel und es begann heftig zu regnen. Es war kein Gast da. Hier ist fast nie ein Gast.
Plötzlich ging die Tür auf und ich sah dich. Du hattest einen Strauß roter Nelken in der Hand. Du setztest dich an einen Tisch und warst in Gedanken versunken. ’Er hat Geburtstag und ist allein...’, dachte ich. ‚Nun sitzt er hier in diesem kleinen gottverlassenen Cafe.’ Ich sah dich an und sagte immer wieder in Gedanken: ‚Sieh mich an!’. Doch es hörte auf zu regnen und du gingst, ohne dich umzuschauen, zum Ausgang. Deine Nelken blieben auf dem Tisch liegen. ‚Dreh dich um! Dreh dich um!’, sagte ich immer wieder, und du drehtest dich um! Doch dein Blick glitt teilnahmslos über mich hinweg, zu Lina sagtest du: ‚Auf Wiedersehen!’ und gingst hinaus. Doch da wusste ich schon, dass wir uns wiedersehen werden. Unsere kleine Stadt... Hier kann man einander kaum verfehlen. Ich habe dich überall gesucht. Und abends bin ich hierher gekommen.“
„Abends?“
„Ja, ich wusste, dass du fr"uher oder spa"ter wieder hierher kommen würdest.“
„Ich bin ja gekommen, Anna, aber immer morgens. Ich bin jedes Mal gekommen, wenn ich diesen Traum hatte.“
„Welchen Traum?“
„Ich habe von dir getra"umt. Sehr oft.“
„Weshalb bist du dann damals weggegangen?“
„Ich habe dich doch nicht gesehen, Anna. In dieser Ecke war es ganz dunkel, und ich dachte, ich sei ganz allein in diesem ... „KLEINEN CAFÉ“. Doch jetzt fällt es mir wieder ein. Flüchtig sah ich in dieser Ecke einen orangefarbenen Fleck. Jetzt  begreife ich. Ich hatte schon gedacht, dass meine Nelken orange waren.“
„Orange?“, lacht Anna. „Stimmt. Ich hatte damals einen orangefarbenen Pullover an. Du hast mich gesehen! Aber nicht wahrgenommen...“
„Warum aber hat Lina....“, frage ich, „warum hat Lina dir nicht gesagt, dass ich immer morgens hierher komme? Oder mir, dass du jeden Abend hier bist?“
„Lina!“, rufen wir wie aus einem Munde.
Lina kommt ohne Eile na"her.
„Lina, warum haben Sie uns nicht gesagt... keinen Tipp gegeben..., wie Anna und ich uns begegnen können?“
Lina gähnt und sagt:
„Woher soll ich denn wissen, dass Sie aufeinander warten?“
„Lina, Sie haben doch gesehen, dass ich nicht einfach nur so komme“, sagt Anna. „ich bin immer allein gekommen und fast jeden Abend“.
„Woher soll ich denn das wissen!“, gähnt Lina. „Hierher kommen doch alle allein. Und alle warten auf irgend etwas... und warten... und warten...“